Ein Leben ohne Privatbesitz?

Nicole Gutschalk • 13.08.2019

Selbstversorger, Gemeinschaften ohne Privatbesitz und Ökonomen, die für ein alternatives Wirtschaftsmodell einstehen – alles nur Weltfremde und Illusionisten? Oder doch eher Menschen, die nicht darauf warten wollen, bis Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft in die Gänge kommen und für mehr Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit sorgen? Wir haben den Yamagishi Hof in Hagenbuch (ZH) besucht. Ein Lebens- und Wohnort, den sich 15 Menschen teilen, die komplett auf Privatbesitz verzichten und ein Leben als Selbstversorger führen.

Viele mögen nicht länger warten und wollen schon heute nachhaltiger leben und ihre Vision einer Gesellschaft umsetzen, die sozial gerechter und menschenwürdiger ist. Sie denken über neue Modelle nach, brechen bestehende Strukturen auf. Und nehmen die Sache selbst in die Hand, indem sie beispielsweise ihren eigenen Strom produzieren und Nahrungsmittel selbst anbauen – im urbanen Garten oder in einer institutionalisierten Gartenkooperative. Sie reduzieren ihr Hab und Gut auf ein Minimum, leben im selbstgebauten «Tiny House», unabhängig von Bankkrediten und verzichten weitgehend auf Konsum. Andere wiederum glauben an ein alternatives Ökonomiemodell. An eine Gemeinwohl-Ökonomie, welche Kooperationen, Netzwerke und das Gemeinwesen in den Vordergrund stellt und damit ein Symbol gegen unbegrenztes Wirtschaftswachstum setzt.

Ganz unabhängig davon, ob ökologische, gesundheitliche, soziale oder ökonomische Beweggründe im Vordergrund stehen, entscheiden sich immer mehr Menschen dafür, auf einer oder gleich auf mehreren Ebenen alternative Wege einzuschlagen. Der Grundgedanke ist bei vielen der gleiche: Sie möchten Unabhängigkeit. Von Dingen, Strukturen oder Tendenzen, hinter denen sie nicht mehr länger stehen wollen – und können. Und natürlich verbindet sie eines ganz besonders: das befriedigende Gefühl, etwas zu verändern.

Leben in der Gemeinschaft ohne Privatbesitz

«Hier spriessen Radieschen, dort drüben wächst der Fenchel und da vorne wuchern Erbsen – schau, es haben sich bereits Schoten gebildet!» Francas Freude ist wahrlich spürbar auf dem Rundgang durch die Gartenparzellen des Yamagishi-Hofs an diesem Morgen im Juni. Die 25jährige Lehrerin ist erst vor ein paar Wochen zur bunt zusammengewürfelten «Patchwork-Familie» im Winterthurer Bezirk Hagenbuch gestossen. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass sie in einer landwirtschaftlichen Kooperative oder einer Gemeinschaft lebt und arbeitet. Aber es sei der erste Hof, auf dem es besonders friedvoll zugehe. «In anderen Betrieben gab es immer mal wieder Neid untereinander oder es entstand Missgunst, weil der eine zu wenig im Garten gearbeitet oder das grössere Zimmer bewohnt hat.» Das sei hier anders. Den Grund dafür hat Franca schnell ausgemacht: Es liege an der Tokkoh-Gesinnung, die ihre Wurzeln im Japan der Fünfzigerjahre hat und nach der die zurzeit fünfzehn Menschen auf dem Hof im Osten des Kantons Zürich leben. Einer Lebenseinstellung, die letztlich zum Ziel hat, dass alle Menschen in Harmonie miteinander und mit der Natur leben können (siehe Infobox). Einer Gemeinschaft im Übrigen, die komplett ohne Privatbesitz auskommt. So teilen sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Yamagishi-Hofes selbst ihren Kleiderschrank. «Faktisch gesehen kommt es allerdings selten vor, dass jemand ein T-Shirt trägt, welches ich regelmässig anziehe», sagt Alex, der vor rund drei Jahren zur Gemeinschaft gestossen ist, nachdem er im Internet nach «Leben ohne Besitz» gegoogelt und kurz darauf einen Tokkoh-Kurs besucht hatte.

Den Hagenbucher Yamagishi Bauernhof gibt es seit 1994. Und wie unschwer vorstellbar in einem 1100-Seelendorf inmitten von Geranienpracht, Kirchturmidylle und Schweizer Fahnen im Wind, wurde der Einzug der Gemeinschaft in der Winterthurer SVP-Gemeinde mit Skepsis beäugt. «Sex-Sekte hat man uns nachgesagt, aber auch Kommunisten und Hippies hat man uns genannt, dabei sind wir weder politisch noch religiös motiviert», sagt André, der so etwas wie das Sprachrohr der Hagenbucher Yamagishis ist und seit den Anfängen der Gemeinschaft hier oben am äusseren Dorfrand lebt. Damals ist der 60jährige mit den blauen Augen und der weichen Stimme mit seiner Frau und den zwei Kindern hierhergezogen. «Letztlich hat mich schon seit jeher die Frage umgetrieben, welchen Beitrag ich längerfristig für das Wohlergehen aller – für Land, Tiere und Menschen – leisten kann.» Antworten darauf hat der ehemalige Krankenpfleger in der Yamagishi-Gemeinschaft gefunden. «Eigentlich ist es simpel: allein kann ich nur beschränkt sehen, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Hofes bekomme ich einen erweiterten Blick auf die Wirklichkeit.»

Den Lebensunterhalt bestreiten die Yamagishis mit dem Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten. Mit saisonalen Früchten und Gemüse, aber auch mit Fleischwaren aus der hauseigenen Metzgerei und Backwaren aller Art. Hierfür stehen fünf grüne Verkaufswagen bereit, die in Formation vor dem Efeu umrankten Haupthaus parkiert sind. «Unser Lebensmittel tragen keine besondere Zertifizierung oder ein Bio-Label, denn wir sind der Ansicht, dass man aus unseren Produkten rausschmecken kann, wie wir mit unseren Hühnern umgehen, mit unseren Schafen, Ziegen und Kühen hier oben leben und welche Freude dahintersteckt, wenn wir unsere Caramelköpflis oder Spätzli herstellen», sagt Alex, der jeweils an fünf Tagen der Woche die Lebensmittel auf Märkten und in den Wohnquartieren der Umgebung unter die Leute bringt. Wer nicht im Verkauf tätig ist, wird in Teams in der Landwirtschaft, in der Küche sowie in der Metzgerei eingesetzt. Damit sich das Lebensmodell der Yamagishis zudem mit dem Sozialstaat verträgt – der ja davon ausgeht, dass Menschen in einem Lohnverhältnis stehen –, sorgt ein Verwaltungsteam dafür, dass die Löhne faktisch ausbezahlt und die AHV-Beiträge der einzelnen Mitglieder beglichen werden. In der Folge fliessen die Löhne jedoch wieder in die gemeinsame Haushaltskasse zurück. Wer Geld benötigt, weil er ins Kino möchte oder neue Schuhe braucht, wird bei der Gemeinschaft vorstellig. «Ich habe genug von allem», sagt Alex, während er das Gatter zu den Gänsen schliesst, und fügt pathetisch hinzu: «Vor allem Lebensfreude – die in jedem Tier auf dem Hof, im Kirschbaum, im Schnittlauch und letztlich auch in mir selbst steckt.»

Das Gedankengut der Yamagishis lässt sich nicht einfach in eine Schublade packen. Es schwingt ein bisschen Buddhismus mit, eine Prise Marx, Spiritualität und Pazifismus sowieso – aber das spielt eigentlich auch keine Rolle. Denn letztlich zählt nur eines: Die Hagenbucher-Gemeinschaft macht mit ihrer alternativen Lebensweise vor, dass auch andere Wege möglich sind.

Gegründet wurde die Yamagishi-Bewegung 1956 in der Nähe von Kyoto. Erzählungen zufolge soll ein Bauer namens Myozo Yamagishi einen Weg gefunden haben, im Einklang mit der Natur zu leben, nachdem ein Taifun seinen Hof verschont hatte. Nachdem er den Leuten in der Umgebung davon berichtete, warum seine Felder so wenig Schaden erlitten, bildete sich die erste Yamagishi-Gemeinschaft. Mittlerweile gibt es Yamagishi-Kommunen in sieben Ländern, sie haben über 30 000 Mitglieder. Das grösste Dorf in Japan zählt 400 Einwohner. Die Hagenbucher Yamagishis freuen sich über Besuch – anmelden kann man sich via produkte@yamagishi.ch. In der Schweiz finden zudem regelmässig Tokkoh-Kurse statt.

Interview

Wirtschaft neu denken

Wie steht es tatsächlich um das grüne Bewusstsein unserer Gesellschaft? Gibt es ein Wirtschaftsmodell, das unsere Ressourcen schont? Dies – und vieles mehr – wollte Life@Home vom Sozialwissenschaftler und Ökonomen Isidor Wallimann wissen.

Herr Wallimann, in welchem Zeitalter leben wir?

Im Zeitalter der Knappheit. Der Ressourcen-Knappheit, um genau zu sein – und dies nicht erst seit gestern. Der Diskurs reicht bis in die Siebzigerjahre zurück und ist grundsätzlich globalisierungskritisch und nachhaltigkeitsfordernd angelegt. Die Frage, die sich uns allen stellen muss, lautet: Was kann man der „zerstörerischen“ Globalisierung entgegensetzen? Unterschiedliche Umweltorganisationen haben darauf eine Antwort und werden dieser Tage wieder vermehrt gehört. Zurzeit fordern sie gerade sehr laut eine steuerliche CO2-Abgabe.

Lange Zeit war es aber auch sehr still. Warum dieser „Stillstand“ innerhalb der Nachhaltigkeits-Debatte seit den Neunzigerjahren?

Die grünen Bewegungen und Parteien waren in den vergangenen Jahren europaweit zu schwach positioniert. Sie mussten seit Ende der Achtzigerjahre eher Stagnation als Wachstum hinnehmen. Zuvor hatten die Grünen – beispielsweise in Deutschland – einen ziemlich grossen Einfluss. «Jute statt Plastik» lautete etwa ein berühmter Slogan aus den Siebzigern. Oder man denke an die grossen Massenaktionen im Zuge der Anti-Atom-Demonstrationen in den Achtzigern und die Einführung einer CO2-Steuer von 1991 in Schweden.

Unsere Jugend geht derzeit ebenfalls wieder für grüne Belange auf die Strasse. Wie steht es tatsächlich um unser nachhaltiges Bewusstsein?

In der Breite gesehen ist dieses Bewusstsein wieder stärker und auch schärfer geworden. Nicht zuletzt auch, weil mehr Informationen vorhanden und für jedermann zugänglich sind. Grundsätzlich weiss also jeder von uns um den eigenen CO2-Abdruck Bescheid – und kann oder könnte zumindest dementsprechend handeln und gewisse Massnahmen ergreifen.

Primär sind aber viele komplett enttäuscht: Denn obwohl sie nachhaltig zu leben versuchen, fühlen sie sich von ihren politischen Handlungsträgern im Stich gelassen.

Stimmt. Letztlich bringt aber Enttäuschung allein gar nichts. Denn die komplett Enttäuschten gehen oft nicht einmal mehr zur Urne – was sehr schade ist. Eine gewisse Enttäuschung gegenüber politischen Handlungsträger hingegen kann aber auch zu einem Antrieb werden, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Um lokal, sozial und nachhaltiger zu handeln beispielsweise.

Ist Widerstand gegenüber globalen Mechanismen auf nationalstaatlicher Ebene überhaupt möglich?

Durchaus, mit grünen, starken Parteien im Hintergrund, die mehr als 20% der Sitze in einem Land einnehmen – diese Tendenz erleben wir derzeit gerade in Deutschland sowie in einigen urbanen Zentren der Schweiz – lässt sich so einiges auch auf nationalstaatlicher Ebene durchsetzen. Aber zweifellos: Die Globalisierung ist mit ihren finanzstärksten Playern eine unglaublich einflussreiche und komplexe Kraft. So hat man öfters das Gefühl, gegen Windmühlen anzukämpfen. Doch Handlungsbereitschaft ist von vielen Menschen dieser Tage spürbar: Denn viele haben schlichtweg keine Lust mehr darauf, Produkte, die von billigen Arbeitskräften hergestellt werden, zu kaufen. Oder merken in ihrem eigenen Alltag, dass sich weder Natur noch Menschen endlos wie Zitronen auspressen und schädigen lassen.

Der Sozialen Ökonomie, für die Sie seit Jahren einstehen und im Raum Basel ein Netzwerk mit aufgebaut haben, liegt ein verantwortungsbewussterer Ansatz zu Grunde. Um was geht es bei diesem alternativen Wirtschaftsmodell konkret?

Letztlich soll nicht ein möglichst schneller und grosser Finanzgewinn als Ziel der einzelnen Betriebe im Vordergrund stehen, sondern die Steigerung des Gemeinwohls. Dies durch ökonomische, politische und gesellschaftliche Veränderungen. Wichtige Aspekte sind dabei Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität, demokratische Mitbestimmung und Gemeingüter mit verschiedenen Zielsetzungen. Schliesslich haben einzelne Unternehmen immer auch eine Verantwortung für ihr Umfeld zu tragen, das will die Soziale Ökonomie fördern.

Nach dem Prinzip der Solidarität also?

Genau, es geht um eine gemeinsame Verstärkung untereinander. Dieses Netzwerk reicht bei uns in Basel derzeit vom Druckereigewerbe, über einzelne Gastrobetriebe und Lebensmittelgeschäfte bis hin zu landwirtschaftlichen Projekten.

Und kann die Bewegung tatsächlich Einfluss nehmen?

Momentan ist unsere Soziale Ökonomie und ihre Alternativwährung Netzbon in Basel vor allem symbolisch zu werten. Es geht primär einmal um eine Bewusstwerdung. Eine Bewusstwerdung, die den einzelnen Mitgliedern unserer Genossenschaft wiederum den Antrieb gibt, in ihrer lokalen Umgebung etwas gegen die sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit zu unternehmen.

Professor Emeritus, war Dozent an den Universitäten Bern, Fribourg, an der Fachhochschule Nordwestschweiz und an verschiedenen Universitäten im Ausland. Der Sozialwissenschaftler und Ökonom setzt sich intensiv mit sozialen Bewegungen und alternativen Lebensformen auseinander. U.a. ist er Mitbegründer und Vorstandsmitglied von Verein und Genossenschaft «Netz Soziale Ökonomie» in Basel und Mitinitiand der Lokalwährung netzbon. Zudem unterstützt er als Gründungspräsident des gemeinnützigen Vereins Urban Culture Basel urbane Landwirtschaftsprojekte im Raum Basel.

PHOTOGRAPHY: LUCAS ZIEGLER