Nomadische Möbelstücke

Susanna Koeberle • 18.04.2019

Das Lausanner Designerduo Panter & Tourron präsentierte während des Salone del Mobile die Kollektion «Tense». Sie reflektiert die Zukunft des Wohnens.

«Nomadisch wohnen leicht gemacht», könnte das Motto dieser Kollektion heissen. «Tense» beruht auf einem der einfachsten und zugleich ältesten Prinzipien der Konstruktion, nämlich der Spannung (so wie man das bis heute bei Zelten vorfindet). Diese Stücke werden nicht von Schrauben zusammengehalten. Deswegen sind die fünf Entwürfe von «Tense» auch im Nu zusammensetzbar und ebenso schnell wieder auseinanderzunehmen. Schliesslich stammt das Wort Möbel von «mobilis» ab, lateinisch für beweglich. Das Lausanner Duo Panter & Tourron reflektiert mit seiner Kollektion den heutigen Trend zu häufigeren Wohnungswechseln, Stichwort «neues Nomadentum».

Alexis Tourron und Stefano Panterotto (die sich am «MAS Design for Luxury & Craftsmanship» Studiengang an der ECAL kennenlernten) stellen damit zugleich einige grundsätzliche Fragen zu den Themen Wohnen und Design. Wie werden wir in Zukunft wohnen? Was bedeutet das für die Materialien der Möbel? Welche Anforderungen müssen Möbel in Zukunft erfüllen? Und nicht zuletzt:

Welche Werte soll Design widerspiegeln?

Wer häufig umzieht, weiss, wie ärgerlich es ist, wenn Möbel beim erneuten Zusammensetzen ihre Funktionalität verlieren. In der Regel sind billig hergestellte Entwürfe nicht gemacht für Mehrfachmontage. Demgegenüber wollten Panter & Tourron Möbelstücke entwickeln, die nicht nur einfach zu transportieren sind, sondern auch qualitativ den Anforderungen erhöhter Mobilität entsprechen – und zudem auch bezahlbar bleiben. Das klingt nach einer unmöglich zu lösenden Aufgabe. Tatsächlich sind es gerade solche Herausforderungen, die Panter & Tourron an Design interessieren. Ihre Recherchen haben auch Forschungscharakter, was nicht zuletzt auf ihren wissenschaftlichen Background zurückzuführen ist. Stefano Panterotto kommt ursprünglich aus der Architektur und wie Alexis Tourron studierte er später Industrial Design, was eher eine technische Herangehensweise an Designfragen impliziert. Das Interesse für Technologie zeigt sich auch bei unserem Besuch in ihrem Atelier in einem Industriegebiet von Lausanne. Hier sieht man überall Materialmuster und daraus resultierende Anwendungen des Studios: Neuste Technologien treffen dabei auf Handwerk. Auch für «Tense» arbeiteten die Designer mit zukunftsweisenden Materialien und Verfahren. Dazu gehören neue Werkstoffe wie Tyvek, recyceltes Plastik oder in der Sportwelt und Automobilbranche verwendete Textilien. Diese zeichnen sich durch hohe Flexibilität und Stabilität aus, zwei wesentliche Faktoren, wenn es um das Prinzip der Spannung geht. «Wir sind neugierig und offen. Unsere Arbeit besteht im Verknüpfen von technologiegesteuerten Fachgebieten, also designfremden Kontexten, mit der Welt des Mobiliars», sagen die beiden Designer. Sie verstehen Design als eine Disziplin an der Schnittstelle zwischen kulturellen und wissenschaftlichen Feldern.

In dieser Kollektion kommen nicht nur Technologie und Handwerk zusammen, es begegnen sich auch Vergangenheit und Zukunft. Denn bevor die Menschen Ackerbau betrieben, waren sie Nomaden. Ob die Sesshaftigkeit nur Positives hervorgebracht hat, bezweifelt auch der Autor Juval Noah Harari in seinem Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit». Gerade in einer Zeit, in der langsam das Bewusstsein wächst, dass der Homo Sapiens im Begriff ist, seinen Planeten zu zerstören, erhält Wohnen und das damit verbundene Thema der Heimat eine neue Aktualität und Brisanz. Nomadentum ist nämlich nicht nur ein Luxus. Viele Menschen wechseln ihren Wohnort unfreiwillig, gerade aufgrund von menschengemachten Problemen wie dem Klimawandel. Davon ist in erster Linie die Bevölkerung in ärmeren Gebieten der Erde betroffen. Doch in Zukunft werden nomadische oder zumindest flexiblere Wohnformen auch in unseren Breitengraden vermehrt der Fall sein.

Die Kollektion «Tense» bietet keine Lösung für globale Probleme, reflektiert aber durch ihre Machart sowie ihre Material- und Formensprache durchaus aktuelle Fragestellungen, die über nationale Identifikationen hinausgehen. Die jüngeren sowie zukünftige Generationen auf der ganzen Welt werden aufgrund von veränderten Bedingungen des Arbeitsmarktes vermehrt den Wohnort wechseln. Oder tun dies jetzt schon, unter anderem auch aus einem grösseren Bedürfnis nach Freiheit heraus. Die Möbelstücke von «Tense» gleichen Kleidungsstücken: Sie sind leicht und nehmen wenig Platz ein. Sie erfüllen zugleich Bedürfnisse, die beim Wohnen zentral sind: etwa Bequemlichkeit, Licht oder Privatheit. Basierend auf diesen Prinzipien entstanden schliesslich ein Lounge-Sessel, zwei Leuchten, ein Raumtrenner und ein Tisch.

Der Lounge-Sessel besteht aus einem Stoff, der durch einen Reissverschluss und zwei Riemen über eine biegbare Sperrholzbasis gespannt wird. Die textilen Elemente sind aus einem dehnbaren, leichten und saugfähigen Stoff, der etwa in der Automobilindustrie verwendet wird. Der Sessel lässt sich flach machen und bietet denselben Komfort wie ein konventioneller Entwurf. Zudem kann der Stoff bei Bedarf auch gewaschen werden. Die Fläche und der Fuss des niedrigen Tisches bestehen aus pulverbeschichteten Aluminiumplatten. Ein Silicon-Riemen, der um diese Elemente gespannt wird, hält den Tisch zusammen. Die Wandleuchte mit ihrer archetypischen Kreisform überrascht durch das verspiegelte farbige Acrylband, das sich um die mit LED-Streifen versehene Aluminiumbasis spannt. Die Deckenleuchte nimmt die Idee des Zeltes auf: Zwei Lagen aus plissiertem Tyvektextil werden durch aneinandergefügte Karbonstäbe in Spannung gebracht. Und schliesslich kommt beim Raumtrenner ein 3D-gestricktes Textil aus Deutschland zum Einsatz, das man heute von Sneakern kennt. Die Entwürfe werden alle im Atelier von Panter & Tourron hergestellt, eine serielle Produktion ist aber durchaus denkbar. Es ist die erste grössere Produktfamilie des Büros. Die Kollektion spiegelt die Vision der beiden Designer wider, Möbelstücke mit möglichst wenig Komponenten zu kreieren.

«Wahrer Luxus besteht nicht im Überfluss, sondern in der Reduktion auf ein Minimum», sind die beiden überzeugt.

Erstmals gezeigt wurden die Stücke von «Tense» während des Salone del Mobile in Mailand. Dass dies im Rahmen eines experimentellen Formats wie «Alcova» geschah, passt dazu. Zum zweiten Mal fand in der ehemaligen Panettonefabrik «Cova» eine von den beiden Studios «Space Caviar» und «Studio Vedet» kuratierte Ausstellung statt, zu der auch Panter & Tourron eingeladen wurden. Mit ihrer wegweisenden Kollektion waren sie bei «Alcova» in bester Gesellschaft (unter anderem zeigte dort das Schweizer Taschenlabel Qwstion seine aus Bananenpflanzenfasern hergestellte Taschenkollektion). Mit dem Namen «Tense» öffnen die beiden Designer noch eine weitere Klammer, nämlich eine soziologische Dimension. Spannung ist ein ambivalentes Wort, es bedeutet auch unter Spannung stehen. Ein Phänomen, das wir heute nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im Alltag erleben. Diese Kollektion zeigt auch, wie Design Spannung positiv nutzen kann, indem sie als Basis dafür dient, in wenigen Schritten ein Zuhause zu schaffen.

Portrait: MIRJAM KLUKA
Fotografie: Panter & Tourron