Macht weniger glücklicher?

Giulia Bernardi • 19.03.2019

Wir brauchen das eigene Auto, die vielen verschiedenen Outfits. Denn sie drücken aus, wer wir sind und was wir (uns) wert sind. So wird es uns von unserer konsumorientierten Gesellschaft vorgelebt: Ich kaufe, also bin ich. Doch macht uns das tatsächlich glücklicher?

Time Square, New York. Eine Bilderflut aus Leuchtreklamen, blinkenden Logos und digitalen Werbeanzeigen, die im Schnelldurchlauf über die grossformatigen Bildschirme schweifen. Dieser Ort ist in vielerlei Hinsicht das Spiegelbild unserer konsumorientierten Gesellschaft, das aber nicht nur in den Vereinigten Staaten vorzufinden ist, wo der Black Friday und Supersize-Portionen unlängst Kultstatus erreicht haben, sondern auch in der Schweiz. Dafür genügt es unmittelbar vor dem Release des neuen iPhones in die Bahnhofstrasse in Zürich zu gehen: Fans campen vor dem Apple Store – teilweise schon mehrere Tage vor dem Verkaufsstart.

Mit ähnlichen Bildern beginnt der Dokumentarfilm Minimalism: A Documentary About the Important Things, der 2016 erschienen ist und den Weg der Protagonisten Ryan Nicodemus und Joshua Fields Millburn zu einem minimalistischeren und bewussteren Lebensstil erläutert. «Ich hatte alles, was ich je wollte. Ich hatte alles, was ich haben sollte», sagt Ryan Nicodemus am Anfang des Films. «Jeder um mich herum sagte: ‹Du bist erfolgreich›. Aber in Wahrheit war ich unglücklich. Da war diese gähnende Leere in meinem Leben. Also versuchte ich, diese Leere so zu füllen, wie das viele Leute tun: mit Sachen, vielen Sachen. Ich füllte die Leere mit Konsumkäufen.»

So haben Nicodemus und Millburn den Lebensstil «weniger ist mehr» für sich entdeckt und gleichzeitig zu einem klugen Selbstvermarktungskonzept entwickelt: Unter dem Namen The Minimalists geben sie Vorträge, verkaufen Bücher und Filme. Das kann man gutheissen oder nicht, doch die Worte von Nicodemus bleiben hängen und weisen auf die dringliche Frage hin, die sich wohl jede und jeder schon einmal gestellt hat: Was brauche ich wirklich, um glücklich zu sein?

«Das Bedürfnis, einen höheren Status zu haben, ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis»

Konsumieren und konsumiert werden

In den Nachkriegsjahren führte der wachsende Wohlstand in Europa zu einem sich stetig ausweitenden Konsumangebot. Das eigene Auto oder das eigene Haus wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren zunehmend zu Statussymbolen für ebendiesen Wohlstand. «Das Bedürfnis, einen höheren Status zu haben, sprich eine gewisse Wertschätzung zu geniessen, die einem andere zuschreiben, ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis», meint Michael Burtscher, Dozent für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Zürich. «Produkte erlauben es, den Status über das eigene Konsumverhalten zu erhöhen. Das nennt man Geltungskonsum: Ich kaufe nicht etwas, weil ich es brauche, sondern weil ich demonstrieren möchte, dass ich mir etwas leisten kann oder weil ich einen gewissen Lebensstil damit signalisieren möchte.»

Daraus folgt eine neue Definition von Mensch und Identität, die zunehmend über das Produkt geschieht. Dies verdeutlicht auch der polnische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch Leben als Konsum, das 2009 veröffentlicht wurde. Denn durch die produktorientierte Selbstdarstellung, so Bauman, konsumieren wir nicht nur, sondern werden auch konsumiert. Dieser Aspekt wird denn auch durch die sozialen Netzwerke intensiviert.

Dass Dinge nicht nur Dinge sind, sondern Ausdruck von Persönlichkeit und Lebensgefühl, wird auch durch die Werbung verdeutlicht: So wird nicht einfach eine Zahnpasta angepriesen, sondern ein glückliches Leben, das durch den Konsum des Produktes plötzlich in unmittelbarer Reichweite zu sein scheint. «Ich gab das Geld schneller aus, als ich es verdiente, und versuchte, meinen Weg zum Glück zu kaufen», fährt Ryan Nicodemus im Film fort. «Ich dachte, ich würde es eines Tages schaffen. Letztendlich müsste das Glück doch irgendwo um die Ecke sein.»

«Die Märkte des synthetischen Konsums basieren auf permanenter Interaktion und positiven Erlebnissen, die zur Ausschüttung von Glückshormonen führen»

Weniger Dinge, weniger Entscheidungen

So scheint uns die Werbeindustrie weismachen zu wollen, dass der Konsum eines bestimmten Produktes nicht nur Grundbedürfnisse befriedigt, sondern uns zu einem erfüllteren Leben verhilft. Dieser Mechanismus wird in der Studie Das Ende des Konsums des Gottlieb Duttweiler Instituts als Dopamin-Economy definiert. Werden Bedürfnisse befriedigt, schüttet der Körper Dopamin und Serotonin aus, sogenannte Glückshormone. Der Körper merkt sich das Hochgefühl und setzt eine Rückkopplung ein, die uns motiviert, genau die Dinge zu wiederholen, die uns glücklich gemacht haben. Dies geschieht aber nicht nur, wenn wir Musik hören oder Sport treiben, sondern beispielsweise auch beim Online-Shopping. Algorithmen, die unser Kaufverhalten voraussagen und triggern, lösen nach einem erfolgreichen Kauf Glücksgefühle aus. «Die Märkte des synthetischen Konsums basieren auf permanenter Interaktion und positiven Erlebnissen, die zur Ausschüttung von Glückshormonen führen», heisst es in der Studie.

Macht Konsum also doch glücklich? Der amerikanische Psychologe Tim Kasser würde diese Frage verneinen. Kasser befand in einer Studie, die er 2009 unter dem Titel The High Price of Materialism veröffentlichte, dass Personen, die materieller Eigentum und Vermögen als wichtig empfanden, sich selbst als weniger zufrieden einschätzten. Als Vergleich: Personen, die Materielles innerhalb ihres Wertesystems als weniger relevant einstuften, gaben an, zufriedener zu sein.

Dass Materialismus, insbesondere der Überfluss an Auswahl, unglücklich macht, resultierte auch aus anderen Studien. Die Psychologen Sheena Iyengar und Mark Lepper führten in den Nullerjahren eine Studie in einem amerikanischen Supermarkt durch. Bestandteil der Studie waren zwei Gruppen, die sich zwischen 6 und 24 Produkten entscheiden mussten. Das Resultat: Jener Gruppe, die eine geringere Auswahl zur Verfügung hatte, fiel die Entscheidung einfacher und sie war, nach eigenen Angaben, anschliessend auch zufriedener damit. «Auswahl ist grundsätzlich positiv, aber zu viel Auswahl ist nicht wünschenswert», sagt auch Michael Burtscher. «Entscheidungen zu treffen wird oft als mühsam empfunden und ist kognitiv anstrengend. Schliesslich haben wir limitierte Ressourcen: Bei langen Entscheidungsprozessen fehlt uns dann die Zeit und Energie für anderes.» Auch die sogenannten Opportunitätskosten, auch Verzichtskosten genannt, spielen dabei eine Rolle. «Wenn sechs Dinge zur Auswahl stehen, muss man sich nur gegen fünf entscheiden. Wenn hingegen 24 zur Auswahl stehen, sind die wahrgenommenen Opportunitätskosten weitaus höher.»

«Unser Konsum verändert sich von einem produkt- zu einem serviceorientierten Konsum»

Slow Fashion und Micro-Living

Einerseits vereinfacht also eine geringere Auswahl unsere Entscheidung, und führt dazu, dass wir mit unserer Wahl letztendlich zufriedener sind. Andererseits weisen auch gesellschaftliche Bewegungen auf das Bedürfnis hin, minimalistischer und somit bewusster zu Leben. Der globale Klimastreik vom 15. März, der von der schwedischen Jungaktivistin Greta Thunberg ausgerufen wurde, oder auch Bewegungen wie Slow-Fashion oder Zero-Waste, sind einige Beispiele dafür.

Neben intrinsischen Motiven – umweltbewusster zu handeln und weniger Ressourcen zu verbrauchen – gibt es auch extrinsische Treiber. Dazu zählen Initiativen wie die 2000-Watt-Gesellschaft, die vorsieht den Energieverbrauch pro Person von durchschnittlich 5000 Watt um rund die Hälfte zu verringern, oder die fortschreitende Urbanisierung. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen werden 2050 rund zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Sogenannte Micro-Appartments, in denen man, je nach Modell, auf nur 24 Quadratmetern lebt, passen den Wohnraum auf die mangelnden Platzverhältnisse der Zukunft an und bringen einen automatisch dazu, sein Hab und Gut bedachter zu wählen.

Auch die Digitalisierung führt dazu, dass weniger zu besitzen einfacher wird. Statt Platten zu besitzen, nutzt man Streaming-Anbieter wie Spotify. Statt ein eigenes Auto zu kaufen, greift man auf Car-Sharing-Angebote zurück. Diese Änderung des Konsumverhaltens beobachtet auch das Gottlieb Duttweiler Institut: Unser Konsum verändert sich von einem produkt- zu einem serviceorientierten Konsum. Nicht mehr die Ware steht im Vordergrund, sondern der Zugang zur Dienstleistung.

«Bringt das mehr Wert?»

Wer entscheidet?

Mit der Verknappung von Lebensraum und Ressourcen wird es immer wichtiger sich zu fragen, was man tatsächlich braucht. Dies auch in Anbetracht der voranschreitenden Digitalisierung. Denn diese hilft uns nicht nur, weniger zu besitzen, sondern macht Produkte jederzeit und überall zugänglich, die uns durch entsprechende Algorithmen vorgeschlagen werden. Wer entscheidet also, wann und was wir kaufen? Mensch oder Maschine?

«Jede Entscheidung, die ich treffe, jede Beziehung, jedes Ding, jeden Dollar, den ich ausgebe, frage ich mich immer: Bringt das mehr Wert?», sagt Ryan Nicodemus am Ende des Films. Und vielleicht sind es genau diese Fragen, die wir uns selbst öfter stellen sollten.