Joan Billing & Samuel Eberli • 12.02.2019

NOMA 2.0 – Die neue «Slow Generation»

Die Neuerfindung der ländlichen Idylle im urbanen Kontext als Kontrast zum digitalen Alltag

Das neue NOMA in Kopenhagen ist mehr als nur eines der weltbesten Restaurants mit einem trendigen, neuen Konzept. Es ist das Symbol der Entwicklung einer neuen Generation; der «Slow Generation». Ihr Mantra heisst Nachhaltigkeit, das diese Generation in einen neuen und bewussteren Umgang mit sich, den Mitmenschen, dem Kulturerbe, der Natur und den Ressourcen stellt. René Redzepi und seinem Team aus Köchen, Architekten, Innenarchitekten, Designern, Handwerkern, Tischlern, Glasbläsern und Künstlern gelingt mit dem neuen NOMA 2.0 ein weiterer, visionärer Meilenstein. Neben dem kulinarischen Höhenflug verschmilzt diesmal auch die Jahrhunderte alte, nordische und traditionsreiche Handwerkskunst mit der Architektur. Es wird Zeit brauchen, um die Einmaligkeit zu verstehen. Denn das NOMA ist nicht nur Restaurant, sondern der Anfang eines neuen Bewusstseins.

Überlebenshandbuch der Königlichen Armee

Begonnen hat alles 2003 mit dem ersten NOMA, als René Redzepi und Claus Meyerin ihr Restaurant in einem alten Speicher mit Baujahr 1766 in Kopenhagen eröffneten. Als Basis und Inspiration für ihre neue Küche diente ein Überlebenshandbuch der königlichen Armee, das akribisch aufzeichnete, wie man mit regionalen Naturprodukten, ungewöhnlichen Gewächsen und Kräutern in Kriegszeiten überleben konnte. Durch diese neue Stossrichtung der Esskultur entwickelte sich Kopenhagen innert kürzester Zeit zum Geheimtipp und schliesslich zum Mekka einer neuen Gastronomie-Bewegung. Zeitgleich begann eine neue, junge Generation von Köchen, die verstaubte 80er-Jahre-Ästhetik der Sterneküche und deren Gerichte aus Foie Gras und Hummer zu hinterfragen. Auf der Suche nach neuer Identität fanden sie die Antwort in jener Art von Kochen, die nicht nur saisonale und örtlich eng verbundene Produkte verwendet, sondern auch kulturelle Werte vermittelt und sichert. Als das NOMA im Jahr 2010 zum besten Restaurant der Welt ernannt wurde, war auch die Bewegung im gleichen Zug geadelt worden.

Vom Einwandererkind zum Visionär

Unbestritten ist, dass sich René Redzepi definitiv seinen Platz in der Geschichte der hohen Kochkunst gesichert hat. Heute gehört er gemäss «Time Magazine» zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Diesen märchenhaften Aufstieg vom Einwandererkind zum gefeierten Visionär, zum Identitätsstifter nordischer Esskultur und damit zum Revolutionär der internationalen Highend-Gastronomie, schafft er durch harte Arbeit, Beharrlichkeit und Talent. Doch als Sohn einer christlichen, dänischen Mutter und eines muslimischen, albanisch-mazedonischen Vaters erlebt er täglich Argwohn und Rassismus. 1977 in Kopenhagen geboren, wächst er in ärmlichen Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitet als Busfahrer, die Mutter als Putzfrau. Nach seiner Kochausbildung bei Pierre André in Kopenhagen und Wanderjahren bei verschiedenen, führenden Sterneköchen der Welt, u.a. beim Erfinder der Molekularküche Ferran Adrià im «El Bulli», kehrt er in seine Heimatstadt zurück, wo er 2003 sein erstes Restaurant, das NOMA, eröffnet. Nach Jahren des Erfolgs und vieler Auszeichnungen lernt er 2013 die Schattenseiten kennen. 63 Gäste stecken sich durch den Verzehr von Muscheln mit dem Noro-Virus an, er verliert den Titel als «Bestes Restaurant der Welt» und sein Restaurant fällt aus der Liste der 50 Besten. Damit nicht genug erhält er schliesslich auch den dritten Michelin-Stern nicht. Doch 2014 kommt er wie der Phönix aus der Asche zurück, und das NOMA wird erneut zum besten Restaurant der Welt gekürt. 2017 entschliesst er sich für ein Sabbatjahr, um neue Ideen zu sammeln und die Vision des neuen NOMA 2.0 zu entwickeln. Dabei gastiert er mit seinen «NOMA-Kreationen» in Tokio, Sydney, Tulum und auf Yucatán.

Ländliche Idylle des Hameau

Mit dem neuen NOMA 2.0 ist dem Spitzengastronom René Redzepi ein weiterer, brillanter Meilenstein gelungen. Das neue, architektonische Grundkonzept seines Restaurants erinnert an die ländliche Idylle eines «Hameau» (einem kleinen Dorf) aus der Rokokozeit. Um sich gelegentlich vom Stress und der Strenge des Versailler Hoflebens zurückzuziehen, besass Marie-Antoinette ein im Massstab verkleinertes, idealisiertes Bauerndorf, wo das Landleben mit der Vorstellung von Freiheit und Schönheit romantisiert wurde. Dabei wurde der Bauernalltag nachgestellt, Gemüse- und Blumenbeete wurden künstlich angelegt sowie Schafe und Hühner gehalten. In der nachfolgenden Periode der Romantik wurde ein Leben nah der Natur unter anderem von Jean-Jacques Rousseau propagiert und dabei für ein breiteres Publikum zugängig. Auch heute sehnt sich unsere Gesellschaft als Kontrast zu unserem digitalen Alltag wieder danach, möglichst nahe bei der Natur zu sein, und holt sie sich deshalb auf absurdeste Art und Weise ins alltägliche, urbane Umfeld zurück.

Das 7’000 Quadratmeter grosse Restaurant

2018 eröffnet René Redzepi das neue NOMA 2.0 am Rande von Kopenhagen, nur zwei Kilometer vom alten Restaurant entfernt. Das rund 7‘000 Quadratmeter grosse Grundstück mit einer ehemaligen Lagerhalle steht auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel und war seit dem Mittelalter Teil des Verteidigungssystems von Kopenhagen. Die Natur, das verwilderte Gelände mit der geschichtsträchtigen, heruntergekommenen und mit Graffiti übersäten Anlage sowie der Blick auf die Hippie-Enklave Christiania und auf das Meer haben René Redzepi auf Anhieb fasziniert und ihn dazu gebracht, sein neues Konzept eines NOMA-Dorfes im Hameau-Stil zu verwirklichen.

Das neue Dorf in Kopenhagen

Die Verwandlung des Geländes in ein regelrechtes Dorf entstand in Zusammenarbeit mit dem Architekten Bjarke Ingels. Ein Team aus hervorragenden, regionalen und über mehrere Generationen bestehenden Handwerksfamilien entwickelt ganz neue Möbel und die Innenarchitektur in der nordischen Tradition. Das Konzept der neuen Architektur wird durch die traditionelle, nordische Ansammlung landwirtschaftlicher Gebäude inspiriert. Dabei wurden die einzelnen Bestandteile eines Restaurants aufgelöst und in elf unterschiedlich grosse Gebäude übertragen, die dorfähnlich und locker miteinander verbunden sind. Die einzelnen Gebäude bergen eine Bäckerei, einen Fermentationsraum, eine Vorbereitungsküche, eine Laborküche, eine verglaste Outdoor-Testküche, wo an den neuen Menüs getüftelt wird, einen Speisesaal für Mitarbeiter, drei Glasgewächshäuser und einen Dachgarten auf dem Hauptgebäude. Der Küchengarten direkt am Wasser und weitere Ackerflächen bilden eine Art kulinarisches «Gartendorf». Redzepi zeigt damit klar, dass die neuen Spitzenköche heute auch Gärtner ihres eigenen Gemüses und der eigenen Kräuter sind. Er weist daraufhin, dass Farm-to-Table als Megatrend nicht mehr zu stoppen ist und sich weltweit ausbreitet. Jedes der «Dorfgebäude» erhält gemäss seiner Funktion ein anderes Aussehen und die unterschiedlichsten Materialien. Die Gäste können jedes Gebäude frei betreten und die verschiedenen, traditionell nordischen Materialien und Bautechniken für sich entdecken. Durch überdachte Wege aus Glas sind die einzelnen Gebäude miteinander verbunden. Indoor und Outdoor verschmelzen gekonnt zu einem Ganzen und werden so zu einem zentralen Gestaltungselement der Architektur und des Aufenthaltes der Gäste im NOMA. Im Fokus steht das Erlebnis, wo und zu welcher Jahreszeit man isst. Ein Highlight ist die Lounge, die aus handgefertigten Ziegelwänden und einem gestuften Eichendach besteht und sich wie ein Ferienhaus aus den 1960ern anmutet. Hier können sich die Gäste nach dem Essen am Kamin inmitten von massgeschneiderten Möbeln des Innenarchitekten für das «NOMA-Dorf», David Thulstrup, entspannen.

Die Küche – das Herzstück

Das Herzstück des NOMA-Dorfes ist die Serviceküche. Das visionäre Konzept sieht vor, dass die Küche alle Bereiche und Gebäude wie Ankunft, Lounge, Grill, Weinkeller, Restaurantsaal und private Veranstaltungsräume um sich herum versammelt. Im Gegensatz zu klassischen Chromstahlküchen bestehen die Kücheninseln aus gewachsten Eichen, die der Innenarchitekt David Thulstrup mit dem belgischen Küchenspezialist Maes Inox speziell für NOMA entwickelt hat. Die Inspiration erhielt René Redzepi beim Anblick eines offenen Ziegelgrills während seines Aufenthaltes in Mexiko. Die Gäste erleben dabei, wie die Köche das neue kulinarische Konzept des NOMA aus drei «Seasons» umsetzen. Jede «Season» dauert drei bis vier Monate und verfolgt jeweils ein Thema. In den Wintermonaten, wenn in Dänemark die Erde schläft, führen Redzepi und sein Team den Gast mit einem Menü aus Fisch und Meeresfrüchten durch eine faszinierende Unterwasserreise. Ganz neue Geschmackskombinationen wie Seeigel mit Rosenöl oder Forellenkaviar mit Kürbiskernöl werden auf den Teller gezaubert. Im Sommer, wenn die Sonne den Boden wieder wärmt, wird das NOMA zum vegetarischen Mekka und die «Plant Season» beginnt. Dann spielen Kräuter, Gemüse und Früchte die Hauptrolle. Im Oktober beginnt die «Game Season» und alles dreht sich um kulinarische Schätze wie Pilze, Wildfrüchte und Wild. Naturgegorene Weine oder kühle Teeaufgüsse aus arktischem Thymian begleiten die Menüs. Auch Geschirr und Gläser sind ein Highlight: Für jedes Saison-Menü haben fünf traditionelle und regionale Keramikkünstler und eine Glasbläserin das Ensemble entwickelt.

Zwischen Genialität und Poesie

Wer in nächster Zeit nicht in Kopenhagen verweilt, dem wird das Buch von René Redzepi «NOMA – Zeit und Ort in der Nordischen Küche», das 2010 im Phaidon Verlag erschienen ist, wärmstens empfohlen. Damit verzaubert uns die Nordische Welt mit ihren Mythen, ihrer Natur und ihrer Küche. Man findet wunderbare Textauszüge aus dem Tagebuch von René Redzepi, den Beginn der Vision der Nordischen Küche oder seine Gedanken vor der Eröffnung seines ersten Restaurants. Die Fotografien von Ditte Isager lassen den Betrachter ebenso in diese nachdenkliche Welt eintauchen. Das Buch ist wie das NOMA selbst: Es geht um mehr als nur ums Essen, um Gefühle und Ehrlichkeit, um Zusammenarbeit, es geht um das Leben, Philosophieren, Geniessen, Kultivieren und die Pflege der Lebenszeit. Auch der Dokumentarfilm «NOMA – ein Blick hinter die Kulissen des besten Restaurants der Welt» vom französischen Regisseur Pierre Deschamps zeigt diese utopische Welt. Er begleitete René Redzepi drei Jahre lang auf seinem ungewöhnlichen Weg von Erfolg, Fall und Neuerfindung, der sich wie ein Künstlerportrait des letzten Jahrhunderts zwischen Genialität, Poesie und Leidenschaft bewegt.

Ohne das NOMA und René Redzepi wäre die Nordische Küche nicht da, wo sie heute ist. Die radikale Beschränkung auf Produkte der Region, der Purismus auf dem Teller, die Art der Zusammenarbeit, der familiäre Teamgeist, die Atmosphäre der Räume, die spezielle Art, Gäste zu bewirten, das alles hat eine ganze Generation junger Köche in der ganzen Welt neu inspiriert und geprägt. Obwohl René Redzepi am Anfang als «Robbenfischer» belächelt wurde, verfolgte er unbeirrt seinen visionären Weg und hat dabei Weltklasseniveau erreicht. Kein Wunder, dass die neue Generation diese bewusste Entschleunigung und das neue Bewusstsein für Lebenszeit kultiviert – und bald weltweit Anklang finden wird.

Photography: Rasmus Hjortshøj, Architecture: Bjarke Ingels, INTERIOR: Design David Thulstrup