Nicht allein

Rainer Brenner • 31.01.2019

Der Pfuusbus bietet Obdachlosen in Zürich während der kalten Jahreszeit ein Zuhause auf Zeit. Wir haben Leiterin Monika Christen einen Tag lang bei der Arbeit begleitet.

Bewölkt bei eins bis minus vier Grad – so lautet die Prognose für diesen Dienstagabend. Als wir um kurz vor sechs Uhr die Endstation der Linie 32 erreichen, spazieren auf der anderen Strassenseite bereits Leute rauchend über den grossen leeren Kiesplatz oder stehen in kleinen Grüppchen beieinander. Viele von ihnen sind erstaunlich jung und wirken keineswegs so, wie man sich Obdachlose vorstellen mag.

Die Sieber Stiftung kümmert sich seit Ende der Achtzigerjahre mit verschiedenen Projekten um Notleidende – zum Beispiel mit dem Pfuusbus. Seit 16 Jahren steht der Sattelschlepper jeweils zwischen Mitte November und Mitte April auf dem Zürcher Albisgüetli und bietet Schlafplätze und warmes Essen für Obdachlose.

Ein Ort ohne Druck

«Du bisch nöd elai»

prangt in grossen Lettern an der weissen Wand des Anhängers neben einem grossen Porträt des Gründungsvaters Pfarrer Sieber. Auch nach seinem Tod letztes Jahr bleibt dieser Satz mehr als nur ein Spruch: «Nach diesem Motto handeln wir hier Tag für Tag», erklärt Leiterin Monika Christen, die uns am Eingang begrüsst. «Hier oben treffen die Besucher auf Gleichgesinnte. Das Wichtigste ist aber, dass man hier einfach Ruhe hat und von niemandem unter Druck gesetzt wird. Die Gäste können sich hier in Ruhe von ihrem Tag erholen – so wie sich das eigentlich jeder von seinem Zuhause wünscht.»

Der 17 Meter lange Sattelschlepper birgt in seinem Inneren 15 Schlafplätze. Das beheizte Vorzelt bietet zusätzlich Platz für bis zu 25 Personen. «Wir waren aber auch schon deutlich mehr», erzählt Monika und setzt sich mit uns in die noch leere Küche. Nach ihrer Weiterbildung zur Sozialarbeiterin arbeitete die gelernte Bankkauffrau in der Suchtstelle Ur-Dörfli, ein Jahr später wechselte sie zum Pfuusbus. Drei Festangestellte, ein Zivildienst-Beamter und über 80 freiwillige Helfer halten dieses Projekt am Laufen. Zum Beispiel Susi und Claudia, die kurz nach uns eintreffen und sich in der engen Küche gutgelaunt hinter den Herd stellen. «Die Gäste essen eigentlich alle sehr gesund. Gemüse ist viel beliebter als Süsses», meint Helferin Claudia und zupft an den Salatblättern. Komplizierte Menüs erhält man vorgekocht, einfachere Speisen wie die Tortellini heute Abend werden in der kleinen Küche frisch zubereitet.

«Sie möchten einfach nur behalten, was sie jetzt noch haben.»

Gegen halb sieben treffen auch schon die ersten Gäste ein: Ein stilles Pärchen, das beim Auslegen der Schaumstoffmatratzen hilft und dafür ein bisschen früher in die Wärme darf. Die beiden setzen sich nach getaner Arbeit still nebeneinander an einen der beiden Bierbänke und blättern durch alte Ausgaben des Geo-Magazins.

«Manche Besucher sind seit über einem Jahrzehnt Stammgäste, andere kommen nur ab und zu», erklärt Monika. Nicht nur menschliche Gäste sind hier willkommen, sondern auch ihre tierischen Begleiter. Zum Beispiel Hündin Leila: «Die ist zwar schon 16-jährig, folgt ihrem Besitzer aber auf Schritt und Tritt. Sie schläft neben ihm auf der Matratze und begleitet ihn sogar raus zum WC».

Viele der Besucher sind dem System entflohen und machen sich keine grossen Hoffnungen mehr auf ein dauerhaftes Zuhause. «Sie möchten einfach nur behalten, was sie jetzt noch haben. Aber es gibt immer wieder auch Ausnahmen – Menschen die es schaffen, von der Strasse wegzukommen und die Kurve zu kriegen. Diese Geschichten motivieren uns natürlich. Aber auch die Dankbarkeit und Wertschätzung, die einem die Gäste tagtäglich entgegenbringen ist unbeschreiblich», findet Monika. Als das erste Grüppchen sich in der Küche leise grüssend an den Tisch setzen, überlassen wir den Pfuusbus seinen Gästen und der Nachtwache.

Kurze Nächte, lange Tage

Am nächsten Morgen um 10 Uhr ist der Bus bereits wieder leer und blitzblank aufgeräumt. Die Schaumstoffmatratzen liegen sauber aufgetürmt in der Ecke, das Vorzelt riecht nach frischer Luft und Putzmittel. In der Küche bespricht sich Monika bei einer Tasse Kaffee mit den beiden Nachtwachen und liest sich den Report der letzten Nacht durch. Die Nachtwache besteht jeweils aus zwei Angestellten oder Helfern, die ihr Lager hinter auf der Küchenbank und unter dem Herd aufschlagen.

In den Kajüten nebenan schlafen die ruhigen Gäste. Unten im Zelt wird es hingegen nie richtig still, da viele der Besucher nachts aufstehen, rausgehen und konsumieren. Im Bus selber gilt zwar strenges Alkohol-, Drogen- und Rauchverbot – was vor der Tür geschieht, bleibt jedem Gast selber überlassen.

Die letzte Nacht sei ruhig verlaufen, liest Monika im Report. Ausser einem kurzen Streit ist wenig vorgefallen. Doch zu Schlaf kommen hier trotzdem nur die wenigsten Betreuer – entsprechend müde und dankbar verlässt man als Nachtwache morgens den Bus. «Gegen Ende Saison hängt diese Arbeit schon an», gesteht Monika. Auf sie wartet in ihrem Büro in Seebach heute jede Menge Administrationsarbeit. Danach geht’s wieder in den Pfuusbus bis frühestens halb acht. «Die Arbeit hier kostet so viel Kraft und Energie, das können sich Aussenstehende wahrscheinlich kaum vorstellen.» Dennoch bedeutet das Saisonende am 15. April immer Tränen für alle Beteiligten: «Man erlebt hier jeden Tag so viel! Und manche der Gäste wachsen uns schon sehr ans Herz. Oft ist’s im April auch noch so kalt, dass ich mir grosse Sorgen um die Leute mache.»

Ihr eigenes Zuhause liegt eine halbe Stunde entfernt in einem ruhigen Dorf. «Meine kleine Oase», erklärt Monika mit breitem Grinsen. «Man braucht so einen Rückzugsort und ein gesundes Umfeld, um diesen Job zu machen, sonst hält man das nicht durch. Wenn hinter mir die Garagentür zufällt, will ich einfach nur entspannen. Ich geniesse mein Zuhause dann in vollen Zügen. Weil ich weiss, was ich daran habe.»

Pfuusbus in Zahlen

5’517 Übernachtungen zählte der Pfuusbus im letzten Jahr.

Zwischen November 2017 und Januar 2019 wurden im Pfuusbus mehr als 87’000 Tassen Kaffee ausgeschenkt.

Bus und Vorzelt bieten insgesamt 40 Schlafplätze. Die Maximalbelegung lag bei 52.

3 Festangestellte, 1 Zivildienstbeamter und über 80 Freiwillige arbeiten für den Pfuusbus.

Wer 60 Franken spendet, finanziert damit eine Übernachtung mit Verpflegung und Gemeinschaft.

Fotografie: Lucas Ziegler