Besuch bei der Künstlerin Anmari Mëtsa Yabi Wili

«Ich suchte kein Schiff, sondern einen Ort, der zu mir passt.»

RAINER BRENNER • 28.06.2018

Atelier, Performance-Location und Wohnung mit Aussicht: Die Künstlerin Anmari Mëtsa Yabi Wili hat sich ihren Traum vom perfekten Lebensraum an Bord eines Frachtschiffs verwirklicht.

«Lorin» steht in blauen, selbstgemalten Lettern auf dem weissen Bug geschrieben, als wir das Schiff am Strassburger Quai des Belges erblicken. Erst vor vier Tagen ist der Frachter hier angekommen – denn in der Region Basel suchte seine Besitzerin seit Jahren vergeblich nach einer fixen Anlegestelle.

Anmari begrüsst uns entsprechend gut gelaunt an der Planke. «Immer gut festhalten», mahnt sie, als wir dem engen Weg entlang Loris’ Bauch zum Führerhäuschen tappen. Wer von dort aus in die eigentlichen Wohnräume steigt, findet eine kleine Küche und zwei charmant eingerichtete Kajüten-Zimmer. Wer danach aber den Frachtraum betritt, fühlt sich in eine ganz andere Welt versetzt: Der Atelier- und Wohnraum ist hell, gross und bunt. Überall finden sich Instrumente und Kunstwerke von Wili und ihren Freunden, von der hohen Decke hängen gläserne Kronleuchter. Auch wenn die Künstlerin sich für die Unordnung entschuldigt, wirkt es, als stehe in diesem gemütlichen, grossen Raum alles genau an seinem Platz. Und nur das Wasser hinter den Bullaugen und ein fast unmerkliches Wackeln unter den Füssen erinnert uns von Zeit zu Zeit daran, dass wir uns hier nicht in einem New Yorker Künstlerloft befinden, sondern auf einem Frachtschiff im Elsass.

Ein anspruchsvoller Mitbewohner

Lorin ist eine sogenannte Péniche. Der Frachter wurde 1951 gebaut, ist knapp 45 Meter lang, 5 Meter breit und bringt laut Zertifikat stolze 184 Tonnen auf die Waage. Bevor er in Wilis Besitz kam, diente Lorin als Frachtschiff für Mais. Heute beherbergt das Schiff eher kulturelle Güter wie Performance, Kunst und Musik. 

Der wichtigste Gegenstand an Bord ist Anmari Wilis Flügel. Ein anspruchsvoller Mitbewohner, der seinen Teil dazu beitrug, dass die Besitzerin hier gelandet ist. Wili wuchs in Luzern auf und lebte mit ihren Kindern lange in Basel, wo sie als zeitgenössische Pianistin arbeitete. Mit den Jahren erkundete Wili nicht nur neue Kunstgebiete, sondern auch neue Lebensräume. Nach diversen internationalen Performances und Ausstellungen hat sie ab 2005 zusammen mit ihrer jüngsten Tochter drei Jahre in Peru verbracht. Als klar wurde, dass die Reise wieder zurück in die Heimat geht, machte Wili sich Gedanken, welcher Ort für sie dort denn in Frage kommen sollte.

«Das Leben auf dem Schiff war kein Traum von mir. Ich suchte vielmehr nach einem Raum, der zu meinem Leben und zu meiner Arbeit passt – und der genügend Platz bietet für Familie, Kunst und Flügel.»

Da steckt viel Arbeit drin

Gesagt, getan? Nicht ganz. «Bis ich nur schon den geeigneten Schiffstyp und die Verkaufsplattformen fand, brauchte das Zeit. Kurz bevor ich die Idee des Frachtschiffs aufgab, empfahl mir ein holländischer Hafenmeister dieses Schiff.», erinnert sich Wili. Das war 2009. «Natürlich ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, wieviel Arbeit noch auf mich zukommen würde», meint die Künstlerin und schmunzelt. Dennoch bereut sie den Entscheid keine Sekunde: «Klar gibt es hier vielleicht mehr zu tun als in einer normalen Liegenschaft. Wenn ich aber daran denke, wieviel mich die Lebensqualität, die ich hier an Bord habe, an Land kosten würde, nehme ich diesen Aufwand sehr gerne in Kauf. Ausserdem lernte ich auf diese Weise mein Schiff von allen Seiten kennen.»

Etappenziel

Mittlerweile ist Lorin längst zum festen Bestandteil in Wilis Leben und Kunst geworden. Auch in Zukunft sollen hier an Bord Performances und Musik entstehen – mit und ohne Zuschauer. «Eigentlich sind wir alle ständig auf dem Weg irgendwohin», fasst sie ihre bisherige Reise zum Ende unseres Gesprächs zusammen. «Mir ist es wichtig, dass die neue Destination immer ein bisschen reizvoller ist als die davor». Hier am idyllischen Strassburger Quai ist ihr dieses Etappenziel definitiv geglückt.

FOTOGRAFIE: ANNE MORGENSTERN