Giulia Bernardi • 4.10.2018

Festmahl der Sinne

Was und wie essen wir? Die Antwort verschwindet oft unter der opulenten Gemütlichkeit unserer Gewohnheit. Dem möchte das niederländische Projekt «Steinbeisser» Abhilfe leisten und veranstaltet experimentelle Gourmet-Dinner, mit denen es unsere Gewohnheiten auf ungewohntes Terrain führt, wo wir sie schliesslich ablegen und hinterfragen.

Essen ist eben nicht nur Essen. Man denke an Redewendungen wie «Du bist, was du isst» oder an das Kochbuch «Les dîners de Gala» von Salvador Dalí, dessen surrealistische, teils erotische oder latent makabre Bildwelten den Freuden des Gaumens gewidmet sind, die er mit seiner Gemahlin zu geniessen pflegte. Ob Lebensstil oder Kunst – Essen ist nicht nur Essen. Dies entspricht auch der Philosophie des niederländischen Projekts Steinbeisser, das 2009 von Jouw Wijnsma und Martin Kullik in Amsterdam gegründet wurde. Seit gut sechs Jahren führen der Scrum Master und der ehemalige Fashion- und Textildesigner im Rahmen ihrer ‹Experimental Gastronomy›-Initiative Gourmet-Dinner durch; dabei kommen Sterneköche, Künstlerinnen und Künstler zusammen, um einen Abend zu schaffen, bei dem Essen anders erlebbar wird.

Die Veranstaltung fand bereits in Berlin und San Francisco statt und 2016 erstmals auch in Basel. Durch letzteren wurde der Kursaal Bern auf das Projekt aufmerksam, der nun gemeinsam mit Wijnsma und Kullik am 21. und 22. Oktober für die nächste Auflage nach Bern einlädt.

Für das Menu wurden Simon Apothéloz von der Eisblume und Fabian Raffeiner vom Restaurant Meridiano engagiert, die entsprechend der Steinbeisser-Philosophie ein 6-Gänge-Menu aus veganen Produkten zubereiten, die aus regionalem, biodynamischen Anbau stammen. «Alle verwendeten Lebensmittel sind saisonal und werden im Umkreis von 150 bis 200 Kilometer angebaut», sagt Martin Kullik. «So möchten wir einerseits das Bewusstsein für saisonale Produkte steigern und andererseits aufzeigen, dass ein hochwertiges Essen nicht zwangsläufig ein Stück Fleisch beinhalten muss.» Dies sei insbesondere in Ländern wie der Schweiz von Bedeutung, wo die Verwendung tierischer Produkte noch immer sehr etabliert ist. Seine eigenen Essgewohnheiten überdachte Kullik, als er sich vor sieben Jahren entschied, vegan zu leben, und sich entsprechend viel Wissen über pflanzliche Produkte aneignete.

Um den Gästen die Wahrnehmung von und den Umgang mit Essen vor Augen zu führen, spielen für Steinbeisser auch Besteck und Geschirr eine grosse Rolle. Bei jedem Anlass werden diese Gebrauchsgegenstände von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern entworfen, diesmal mitunter vom Zürcher Atelier Volvox oder dem Berner Designer Laurin Schaub. «Das Besteck hat viel damit zu tun, wie wir essen und wie wir Essen wahrnehmen», meint Kullik. «Nehmen wir als Beispiel einen Löffel. Er ist so gemacht, dass man so viel wie möglich in möglichst kurzer Zeit essen kann. Doch was passiert, wenn man einen Löffel beispielsweise unhandlich gestalten, sodass man ihn öfter ablegen müsste? Das würde unsere Essgewohnheit schlagartig verändern.»

Indem ein Besteck nicht funktional sein soll, haben auch die Designerinnen und Designer eine grosse Freiheit und werden ermutigt, einen Schritt weiterzugehen und gesetzte Gestaltungsprinzipien neu zu denken.

Neben Besteck und Geschirr trägt auch der Ort dazu bei, Angewohnheiten zu durchbrechen. Denn Steinbeisser sucht sich bewusst Orte aus, an denen man sonst nicht dinieren würde. In Basel waren es beispielsweise die Merian Gärten, 2017 dann das Museum Rietberg in Zürich. Für die diesjährige Auflage ist die Wahl auf das ehemalige PTT-Hochhaus gefallen. Das Dinner wird auf dem Dach beginnen und schliesslich im Hochregallager rund 21 Meter unter der Erde enden.

Im 7000 Quadratmeter grossen Lager ragen über 70 Säulen aus Beton rund 20 Meter in die Höhe. Der Raum wird vom Zürcher Designer Sebastian Marbacher inszeniert. «Spannend daran ist, dass der Raum nicht auf ein Abendessen ausgelegt ist», meint Marbacher. «Durch die Abwesenheit von Fenstern und die kahlen, hohen Säulen, ist er auf den ersten Blick nicht unbedingt ein Raum, in dem man essen möchte.» Die Herausforderung bestehe nun darin, einen Ort zu schaffen, an dem man sich wohlfühlt. «Ich habe mir lange überlegt, wie ich dieses grosse Lager ausfüllen soll», schildert der junge Designer. «Ich habe vor Ort spontan Ideen skizziert und erprobt, wie man was umsetzen könnte. Bei diesem Prozess entstand dann auch die Idee, die Luft durch Laternen sichtbar zu machen, die in ihrer Grösse dem Massstab des Raumes entsprechen.» Sie sollen sich aber nicht aufdrängen, sondern neben den Kerzen als Lichtquelle dienen und einen Rahmen für das Abendessen und die gestalteten Objekte schaffen.

«Für viele mögen sowohl das Essen als auch die Utensilien ungewohnt sein», schliesst Martin Kullik das Gespräch ab. «Darum auch der Name Steinbeisser. Das Ungewohnte mag manch einem so vorkommen, als ob man auf Stein beissen würde», sagt Kullik und lacht. «Und genau das möchten wir auch: Emotionen auslösen und unsere Gäste aus ihrer Comfort Zone locken.»

Fotografie: Eric Wolfinger, Kathrin Koschitzki, Marion Luttenberger, Rein Janssen