Wie die Digitalisierung Wohnen und Bauen verändert

Perspektiven
Giulia Bernardi • 11.12.2018

Die Digitalisierung hat auch die Wohn- und Bauindustrie verändert. Dadurch entstehen neue Handlungsfelder, über die wir sprechen sollten.

«Okay Google, bitte Isa anrufen…» Technologische Neuerungen haben schon verschiedenste Branchen revolutioniert, darunter die Wohnindustrie. So geschehen bereits Ende des 18. Jahrhunderts, als in Europa erstmals Zentralheizungen mit Thermostat eingeführt wurden. Weiter ging es dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Elektrifizierung der Haushalte erfolgte und ab den 1950er-Jahren immer mehr elektrische Geräte verwendet wurden – vom Kochherd bis zur Waschmaschine. So veränderte sich einerseits die Einrichtung innerhalb der eigenen vier Wände, andererseits aber auch die Anforderungen daran: Ernährungsgewohnheiten wie auch Hygienevorstellungen wurden grundlegend umgestellt und orientierten sich an dem, was die technologischen Neuerungen zu bieten hatten.

Quo vadis, Digitalisierung?

Unter Beobachtung der bisherigen Veränderungen, stellt sich die Frage, wie sich das Wohnen in Zukunft gestalten wird. «Generell wird in den eigenen vier Wänden vorsichtiger mit der Anwendung technologischer Neuerungen umgegangen», meint Liv Christensen, Sozialwissenschaftlerin und Mitarbeiterin am ETH Wohnforum. «Das bedeutet aber nicht, dass digitale Technologien dort gar nicht zum Einsatz kommen, im Gegenteil: Sie werden vor allem dann genutzt, wenn sie das Wohnen vereinfachen oder personalisieren.»

Diese These wird von Angeboten wie dem ‹Dash Replenishment Service› von Amazon bestätigt. Dabei werden intelligente Sensoren an einem Behälter befestigt, wie beispielsweise an einer Waschmittelverpackung. Sobald der Inhalt sich dem Ende zuneigt, sendet der Sensor eine Benachrichtigung an das Smartphone der Nutzerin oder des Nutzers und bestellt das jeweilige Produkt – sofern erwünscht – automatisch auf Amazon. Ein solches Angebot entspricht meist gesellschaftlichen Bedürfnissen, wie zum Beispiel dem Bedürfnis der sogenannten «Instant Economy», also dem Wunsch nach sofortiger Verfügbarkeit eines Produkts oder einer Dienstleistung.

Smart Home 2030, GDI Gottlieb Duttweiler Institut, 2015

Auch die Pluralisierung, sprich die Etablierung neuer Lebens- und Familienmodelle, hat einen Einfluss auf die Richtung, in die sich die Digitalisierung der Wohnindustrie bewegen wird. Dieser Trend wird denn auch durch die hohe Anzahl an Einpersonenhaushalten verdeutlicht: Diese haben in der Schweiz seit den 1930er-Jahren stetig zugenommen und machen momentan rund 36 Prozent der Privathaushalte aus. «Durch die individualisierten Lebensentwürfe nimmt auch das Bedürfnis nach individualisierten Wohnformen zu», sagt Liv Christensen.

«Man möchte neutrale und flexible Räume, die, je nach Anforderung und Situation, entsprechend angepasst werden können. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Zukunft intelligente Tapeten geben wird, die zum Beispiel ihre Farbe ändern, oder im 3D-Drucker hergestellte Wände, die beliebig verschoben werden können.»

Der demografische Wandel, darunter die alternde Gesellschaft, fragt ebenfalls nach neuen Modellen, die es erlauben, länger selbstbestimmt zu wohnen. Mit diesem Bereich befasst sich das Forschungszentrum iHomeLab der Hochschule Luzern, das an verschiedenen Projekten im Bereich der Gebäudeintelligenz arbeitet, um das gesellschaftliche Leben von Seniorinnen und Senioren, aber auch von Menschen mit Beeinträchtigungen zu verbessern. Im Rahmen des Pilotprojekts ‹Pontis› wird beispielsweise erforscht, wie ein Fernseher allein durch Gehirnströme gesteuert werden kann.

Smart Home 2030, GDI Gottlieb Duttweiler Institut, 2015

So soll durch technologische Neuerungen einerseits das individuelle Leben, und andererseits das Leben in der Gemeinschaft verbessert werden. Dafür wurde das amerikanische Social-Media-Network ‹Next Door› entwickelt, das demnächst auch in der Schweiz eingeführt werden soll. Es dient als Plattform, auf dem sich die Nachbarinnen und Nachbarn aus einem Quartier kennenlernen können, sich gegenseitig um Rat fragen oder etwas voneinander ausleihen. «So entstehen neue Formen der Partizipation und Gemeinschaft», beschreibt Liv Christensen. «Durch solche Plattformen sieht man sich immer mehr als Teil eines Quartiers oder einer Stadt. Grenzen zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit verfliessen immer mehr.»

Roboter, die bauen?

Ähnlich wie in der Wohnindustrie hat die Digitalisierung auch in der Bauindustrie neue Handlungsfelder eröffnet. In diesem Zusammenhang ist die bereits Anfang des Jahrhunderts erfolgte Anwendung von 3D-Simulationen wie dem Building Information Modelling (BIM) zu nennen. Die Software erlaubt die Erstellung digitaler Modelle, die viel realitätsnäher als eine ein- oder zweidimensionale Zeichnung sind.

Mit neuen Vorgehensweisen in der Planung und am Bau beschäftigen sich Fabio Gramazio und Matthias Kohler. Eines der neuesten Verfahren von Gramazio Kohler Research heisst ‹Eggshell› und soll die Herstellung von nicht standardisierten Stahlbetonkonstruktionen optimieren. «Beton wird in vielen Bereichen verwendet, da es sich um ein sehr leistungsfähiges Material handelt, das jede Form annehmen kann», sagt Fabio Gramazio, Professor für Architektur und Digitale Fabrikation an der ETH Zürich.

«Die Form ist eine Frage der Schalung, die gleichzeitig auch das grösste Problem darstellt. Denn diese wird nach einmaliger Verwendung oft entsorgt.»

© Gramazio Kohler Research, ETH Zurich

Um die Herstellung nachhaltiger zu gestalten, werden bei ‹Eggshell› 3D-gedruckte, wiederverwendbare Schalungen entworfen, die für den Guss von Betonbauteilen genutzt werden. «Wenn ich wenig Material für etwas verwenden möchte, brauche ich eine komplexe Form», erläutert Gramazio. «Das ist vor allem bei Materialien wie Beton wichtig, der zementhaltig ist und darum viel Energie in der Herstellung braucht.»

Auch im Rahmen des installativen Projekts ‹Rock Print Pavillon›, das im Oktober und November auf dem Kirchplatz beim Gewerbemuseum in Winterthur zu sehen war, wurden neue Vorgehensweisen erprobt. Ein mobiler Roboter baute einen Pavillon aus Schotter und Schnur; die Architektur erlangte durch den gezielten Aufbau des Materials und dessen Selbstverzahnungseigenschaften eine grosse Stabilität. Dazu hat auch die externe Belastung durch ein Stahldach beigetragen, das oberhalb der Säulen aus Schotter und Schnur positioniert wurde. Dieses aus der Physik bekannte Phänomen nennt sich Jamming. «Obwohl es sich dabei um kein reales Bauverfahren handelt, enthält die Installation grundsätzliche Forschungsfragen», meint Fabio Gramazio. «Das Gebot der Stunde lautet Trennbarkeit von Material. Man muss nicht nur darauf achten, mit möglichst wenig Material zu bauen, sondern auch möglichst wenig davon zu verkleben und zu vermischen, um es nach einem Zyklus wiederverwenden zu können.»

Auf die Frage, ob die Digitalisierung auch die Bauindustrie revolutionieren wird, antwortet Gramazio: «Es wird noch Veränderungen geben. Den bevorstehenden Wandel kann man allerdings nicht mit dem vergleichen, der in der Film- oder Handybranche eingetreten ist. Die Bauindustrie ist sehr komplex: Sie hat viele Schnittstellen zur Realität, die es zu berücksichtigen gilt.»

Rock Print Pavilion, 2018, Gewerbemuseum Winterthur, Foto: Michael Lio

Eine positive Narration

Die gesellschaftliche Haltung hat einen bedeutenden Einfluss auf die Etablierung neuer Technologien. Laut einer repräsentativen Befragung des Gottlieb Duttweiler Institut (GDI), die im Rahmen der Studie ‹Smart Home 2030› durchgeführt wurde, herrscht in der Wohn- und Bauindustrie in der Schweiz noch immer eine gewisse Zurückhaltung. Lediglich 34 Prozent der Architektinnen und Bauingenieure haben angegeben, dass das Thema des intelligenten Wohnens in ihrem Unternehmen wichtig sei. Die Gebäudetechnikerinnen und -techniker waren mit 53 Prozent am stärksten vertreten. Diese distanzierte Haltung findet sich auch auf Kundenseite wieder. Laut den befragten Anbieterinnen und Anbietern ist Nachfrage vor allem in den Bereichen Haustechnik, Sicherheit als auch Audio und Multimedia vorhanden, also in den Bereichen, in denen bereits seit dem 20. Jahrhundert Automatisierungen stattfinden. «Die eigenen vier Wände werden oft als Refugium von der schnelllebigen, digitalisierten Welt gesehen», meint Liv Christensen. So werde auch die zunehmende Transparenz durch Sensoren oft als heikel beurteilt, worauf auch das Gottlieb Duttweiler Institut verweist.

Smart Home 2030, GDI Gottlieb Duttweiler Institut, 2015

So beobachtet auch Fabio Gramazio eine gewisse Zurückhaltung in der Bauindustrie. «Die Diskussion in Bezug auf das Ende der Arbeit ist virulent. Es wird einen Strukturwandel geben, und der wird schmerzhaft sein. Doch Strukturwandel sind Teil der kulturellen Entwicklung, die durch eine sorgfältige Diskussion begleitet werden sollten.» Allerdings enthalte diese Diskussion, so Gramazio, momentan einen Denkfehler, da sie aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts geführt werde; also aus einer marxistischen Perspektive, in der die Maschine dem Kapitalisten gehört und die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Arbeitsprozess entfremdet werden, ähnlich wie es in der Automobilindustrie geschah. «Dadurch entsteht eine Spannung zwischen Mensch und Maschine», meint Gramazio. «Eine komplexe Maschine ist abhängig vom Menschen. Diese Sichtweise erlaubt eine Versöhnung zwischen den beiden Parteien. Das ist eine positive Narration vom Gleichen und ich denke, dass sie wesentlich mehr zu bieten hat.»

So steht auch der Wohn- und Bauindustrie ein Strukturwandel bevor, der neue Handlungsfelder eröffnet und von einer sorgfältigen Diskussion begleitet werden sollten. Denn die Frage ist nicht, ob Veränderungen eintreten werden, sondern wie wir damit umgehen möchten.

Illustration/Fotografie: Gottlieb Duttweiler Institut, Michael Lio, Gramazio Kohler Research