NACHHALTIG LEBEN
NICOLE GUTSCHALK • 28.02.2019

Urban Farms –
Siegeszug der städtischen Landwirtschaft?

«Vegitecture»-Komplex in Paris, ©Poltred Studio

Immer grössere und schnellere Erträge aus der Landwirtschaft müssen her, um weltweit eine stetig wachsende Stadtbevölkerung zu ernähren. Werden Urban Farms den Raubbau an unserer Natur aufhalten können? Eine Bestandsaufnahme.

Die Prognosen sprechen eine klare Sprache: Unsere Städte sind der Lebensraum der Zukunft schlechthin. So prognostizieren zahlreiche Wissenschaftler, dass rund 70% der Weltbevölkerung im Jahr 2050 in urbanen Zentren leben wird. Das wären also 2 von 3 Menschen auf unserem Planeten. Bis zum Ende des Jahrhunderts rechnet man mit 10 Milliarden Städtern weltweit. Aber auch heute schon – übrigens zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit überhaupt – lebt die Hälfte der Menschen urban. Grund genug also, um von Albträumen geplagt zu werden? Sich Horrorszenarien von überbevölkerten Metropolen auszumalen, die im Smog und Verkehrschaos ersticken und nicht mehr in der Lage sein werden, ihre Bewohnerinnen und Bewohner mit Nahrungsmitteln zu versorgen?

70% der Weltbevölkerung wird im Jahr 2050 in urbanen Zentren leben.

Glücklicherweise gibt es Menschen auf unserem Planeten, die sich schlaue Gedanken zu den Städten unserer Zukunft machen. Die sich etwa die Frage stellen, wie man die Versorgung mit sauberem Trinkwasser und sauberer Energie sicherstellen kann und gleichzeitig die Umwelt schont. Die darüber nachdenken, wie Mobilität in der idealen Zukunftsstadt aussehen könnte. Oder sich den Kopf darüber zerbrechen, wie Städte künftig mit Nahrungsmitteln versorgt werden können, ohne weiterhin Raubbau an unserer Umwelt zu betreiben. Denn so viel steht fest: Schon heute sind die Menschen in den Städten weltweit auf die Erträge der Landwirtschaft angewiesen. Auf immer grössere und schnellere Erträge, die nur mittels dem Einsatz von Pestiziden, Düngemitteln und einem enorm hohen Wasserverbrauch erbracht werden können. Der WWF hat errechnet, dass weltweit jede Minute 19 Tonnen der für uns produzierten Nahrungsmittel im Müll landen. Tatsache ist auch, dass rund 1/3 der Agrarerzeugnisse jährlich auf dem Transportweg verrotten. Foodwaste nennt sich das Ganze dann. Laut Untersuchungen von Foodwaste Schweiz enden hierzulande jährlich 3 Millionen Tonnen Nahrung im Abfall. Zur Verdeutlichung: Das würde einer Anzahl von rund 12,5 Milliarden Olma-Bratwürsten entsprechen! Wie sollen wir es also schaffen, aus dieser Sackgasse wieder herauszufinden? Aus dieser Einbahnstrasse, in der sich eine rasant wachsende Stadtbevölkerung einer ressourcenschonenden Produktion von Nahrungsmittel diametral gegenüber zu stehen scheint?

Einer, der sich dieser Fragen seit über 20 Jahren annimmt, ist der Umweltwissenschaftler Dickson Despommier von der New Yorker University of Colombia. Man nennt ihn auch «Pope of Urban Farmers». Den Papst der städtischen Landwirtschaft also. «Uns gehen irgendwann die Ressourcen aus. Und wenn die Städte so gross werden, dass sie ihre Bewohner nicht mehr ernähren können, bricht das System zusammen», sagt der Wissenschaftler beinahe predigend in seinen beliebten Ted-Talks. Despommiers Lösung scheint simpel:

Nahrungsmittel sollen künftig da angebaut werden, wo die meisten Menschen leben - in den Städten und Metropolen dieser Welt also.

Das vermeidet weite Transportwege und sorgt zudem für Frische und Transparenz in der Herstellung. Die Menschenspezies, die sich bereits schon jetzt möglichst lokal oder zumindest von regional produzierten Lebensmittel ernährt, heisst übrigens «Locavores» – Nahesser. Eine Tendenz, die oft als urbaner Edeltrend verstanden wird. Als Bewegung, die es Stadtmenschen erlaubt, ein bisschen die Umwelt zu retten, dabei Stress abzubauen und soziale Kontakte zu pflegen. Dabei ist «Urban Farming» alles andere eine Luxusbeschäftigung für stressgeschädigte Stadtmenschen.

1975, Bild von Liz Christy in einem ihrer Lower East Side Gärten. © Donald Loggins

© Donald Loggins

Die Wiege von «Urban Farming» ist nämlich in den ärmeren Vierteln dieser Welt zu suchen. Im New York der Siebzigerjahre etwa. Damals entstanden über den Dächern von Brooklyn Gemeinschaftsgärten für die Community. Doch, was ursprünglich von der Stadtverwaltung als Befriedung von sozialen Brennpunkten gedacht war, entwickelte sich rasch als flächendeckendes Greening: Hausfassaden und Dächer wurden begrünt, sowie brachliegende Restflächen in Guerilla-Aktionen bepflanzt. Mittlerweile gibt es in der US-Metropole über 800`000 selbstversorgende Gärten, welche auch in den Entwicklungsplänen der Stadt New York für das Jahr 2030 eine wichtige Rolle spielen. So könnten laut Berechnungen im Big Apple bei optimaler Nutzung sämtlicher städtischer Potenziale rund 700`000 Menschen von lokalem Anbau ernährt werden. Dass aus der Not eine Tugend werden kann, beweist auch die Anwohnerschaft der Stadt Detroit. So hatte die gezielte Deindustrialisierung, sprich der Abzug der Motown-Werke aus der ehemalige Autostadt, verheerende Folgen für die Bevölkerung: Wer konnte, zog weg, wer blieb musste mit Arbeitslosigkeit rechnen. Binnen weniger Jahre brach die gesamte Infrastruktur zusammen: Geschäfte und Supermärkte sind in die Vororte gezogen, die Lebensmittelversorgung beschränkte sich auf Fertigprodukte aus Tankstellen oder Kiosken, frisches Obst und Gemüse waren rar. Bis in den Neunzigerjahren einige Bewohner damit anfingen, brachliegende Flächen zu besetzen und Nahrungsmittel für sich und die Nachbarschaft anzubauen. Innerhalb weniger Jahre machte dieses Beispiel Schule. Heute gibt es in Detroit ein Netzwerk von mehr als 1’200 «Urban Farms». Manche sind nur wenige Dutzend Quadratmeter gross, andere mehrere Hektar. Einige werden privat betrieben, andere wiederum durch Nachbarschaften und Kooperativen.

Doch die meisten Städte haben nicht mit Abwanderung zu kämpfen oder verfügen über ungenutztes Brachland, sondern sind mit Verdichtungsproblemen beschäftigt. Mitunter ein Grund dafür, dass die Forschung im Gebiet «Urban Farming» einen Schritt weitergehen will:

«Wenn urbane Fläche ein rares und teures Gut darstellt, bleibt eigentlich nur ein Weg: Den Anbau in die Vertikale zu verlegen»

Dickson Despommier, US-Wissenschaftler

In sogenannten «Vertical Farms», meist Türmen, sollen Nahrungsmittel gemäss der Hydroponik-Technologie angebaut werden. In geschlossenen Räumen also, in denen die Pflanzen ohne Erde gedeihen, gezielt mit Nährstofflösungen versorgt und nur mit einem Zehntel der Wassermenge auskommen, die sie in herkömmlicher Landwirtschaft benötigen würden. Damit die Indoor-Pflanzen Photosynthese betreiben, werden sie mit LEDs in unterschiedlicher Wellenlänge bestrahlt. Wo wir auch schon beim springenden Punkt in der Erfolgsbilanz von Urban Farms angelangt wären: Gemäss zahlreicher Untersuchungen sind solche vertikalen Gewächshäuser im Vergleich zum konventionellen Anbau auf dem Feld und in üblichen Gewächshäusern aufgrund ihrer hohen Energiekosten derzeit nicht wirklich konkurrenzfähig. So berechnete etwa das Deutsche Institut für Luft- und Raumfahrt (DLR), dass momentan 1 Kilogramm produzierter Nahrungsmittel einer Urban Farm in unseren Breitengraden rund 12 Euros kosten würde. Definitiv zu viel, um 7 Milliarden Städter zu ernähren.

Abgesehen von den hohen Energiekosten, gibt es zudem auch Städte auf unserem Planeten, in denen eine Konzentration auf urbane Landwirtschaft nur wenig Sinn ergibt. Am Beispiel Schweiz lässt sich das gut aufzeigen: Das Projekt des Zürcher Start-Up Unternehmens Urban Farmers, welches hierzulande mit viel Enthusiasmus und Expansionsplänen auf dem Basler Dreispitz-Areal gestartet wurde, musste im vergangenen Jahr seine Tore schliessen. Dabei hatten die Initianten auf eine interessante und äusserst nachhaltige Methode gesetzt: Aquaponic. Ein natürliches Kreislaufsystem, dass Fischzucht mit dem Anbau von Gemüse verbindet. Zu gross waren allerdings die Investitionen und zu klein die Erträge. Mitunter ein Grund für das Scheitern des Projekts kann im Standort gefunden werden: Denn hierzulande ist quasi jeder Bauer ein Urban Farmer. Ist doch der nächstgelegene Bauernhof vom städtischen Supermarkt aus gesehen nicht selten zu Fuss erreichbar.

Ganz anders hingegen gestaltet sich die Sachlage in Megacitys wie Singapur, die hauptsächlich auf importierte Ware angewiesen sind. Nahrungsmittel werden im Inselstaat aus Malaysia, Thailand oder China bezogen, die mitunter bis zu einer Woche unterwegs sind. Das in Singapur Nachhaltigkeit irgendwann zur Überlebensfrage würde, hat die Stadtverwaltung früh erkannt und deshalb bereits vor 30 Jahren gezielt in urbane Anbau-Projekte investiert. Mittlerweile hat der Inselstaat punkto Urban Farming die Nase weit vorn. Das Zauberwort lautet: Go-Grow. Ein System, das auf rotierende, übereinanderliegende Etagen setzt. Durch die Rotation erhalten alle Anbauebenen in der vertikalen Farm die gleiche Portion Sonneneinstrahlung. Denn eines ist in Singapur gewiss: konstanter Sonnenschein – ein Vorteil, den wir uns in nördlichen Breitengraden nicht zu nutzen machen können.

Soll Urban Farming künftig auch in unseren Breitengraden Fuss fassen, müssen wir auf nachhaltige und günstige Energieformen hoffen.

Urban Farming Projekte

Sechs Projektbeispiele
aus der ganzen Welt

London

©Growing Underground

33 Meter unter den Strassen Londons wachsen seit 2015 in einem postapokalyptisch Umfeld, Salat und eine Vielzahl von Kräutern. Vom romantischen Charme, der im Begriff Urban Gardening mitschwingt, ist bei Growing Underground allerdings nichts zu sehen: Hier herrscht Raumschiffcharakter. Die Pflanzen stehen in den Tunneln des ungenutzten Luftschutzbunkers übereinander in ausgeklügelten hydroponischen Regalsystemen und werden mit LEDs beleuchtet. Growing-Underground.com

Paris

«Vegitecture»-Komplex in Paris, ©Poltred Studio

Im Pariser Vorort Romainville entsteht derzeit ein vertikales Landwirtschaftsprojekt, welches die städtische Landwirtschaft in einen «Vegitecture»-Komplex verwandeln soll, dessen Produktionskreislauf es den Einwohnern ermöglicht, Produkte direkt von ihrer örtlichen städtischen Farm zu beziehen. In einem mehrstöckigen Glasgewächshaus mit einer Fläche von 1000 Quadratmetern will das französische Architekturbüro Ilimelgo die Pflanzen in einem System beherbergen, welches die Sonneneinstrahlung und die natürliche Belüftung maximiert.

Berlin

©ECF-Farm

Im Berliner Landwirtschaftsprojekt ECF Urban Farms wird Süsswasserfisch (Barsch) in gesammeltem Regenwasser in einem alten Fabrikgebäude gezüchtet. Das mit Fischausscheidungen angereicherte Wasser wird in der Folge für den Gemüseanbau in den Gewächshäusern verwendet. Der Vorteil dieses sogenannten aquaponischen Systems ist, dass es quasi ein geschlossener Wasserkreislauf ist: Die Produktion erfolgt nahe am Verbraucher und es besteht kaum Bedarf an Transport. Das Abfallprodukt der Fischproduktion wird wiederum als Dünger zum Anbau des Gemüses verwendet. Das Unternehmen produziert rund 30 Tonnen Fisch und 35 Tonnen Gemüse pro Jahr. Ecf-farm.de

©ECF-Farm

Gründer Nicolas Leschke, ©ECF-Farm

Schweiz/Bad Ragaz

©ECF-Farm

Das Berliner Unternehmen ECF Farms hat die grösste Dachfarm der Schweiz an ihren Kunden Ecco Jäger übergeben, welche die Farm in Bad Ragaz nun betreibt. Die Anlage ist erfolgreich und nachhaltig zugleich und nutzt die Abwärme der Kühlräume für die Beheizung des Fischtanks und des Gewächshauses. Ecco-jaeger.ch

Singapur

©Skygreens Singapore

Sky Greens ist der weltweit erste kohlenstoffarme, hydraulisch betriebene landwirtschaftliche Betrieb. Damit bietet das Unternehmen eine umweltfreundliche Lösung für die Stadt, um frisches Gemüse zu produzieren und dabei Land, Wasser und Energie zu sparen. Sky Greens wird von der Regierung Singapurs unterstützt und hat grosse Expansionspläne: Künftig sollen auf 2000 Farmtürmen, die auf 3,7 Hektaren Land stehen, 8-9 Millionen Pflanzen pro Jahr kultiviert werden. Skygreens.com

New York/Chicago

© Gotham Greens & Julie McMahon

Gotham Greens baut in technologisch fortschrittlichen, klimageregelten, städtischen Gewächshäusern in unmittelbarer Nähe zu Einzelhändlern und Gastronomiebetrieben frische Produkte an. Dies gewährleistet die Zuverlässigkeit, Transparenz und Nachverfolgbarkeit der gesamten Lieferkette. Das Unternehmen besitzt und betreibt derzeit 4 Produktionsanlagen in NYC und Chicago mit einer Gesamtfläche von 170`000 Quadratmetern. Weitere 500`000 Quadratmeter befinden sich in Planungsphase und sind für fünf weitere Bundestaaten geplant. Gothamgreens.com

© Gotham Greens & Julie McMahon