«Was wir sicher wissen: Wir werden immer zahlreicher und haben immer weniger Platz.»

SUSANNA KOEBERLE • 19.04.2018

Der interdisziplinäre Think Tank W.I.R.E. beschäftigt sich seit rund zehn Jahren mit globalen Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Wir unterhielten uns mit Simone Achermann, einer der Mitgründerinnen des Schweizer Denklabors, über einen der thematischen Schwerpunkte: Unsere Zukunftsfähigkeit.


SUSANNA KOEBERLE:
Wie kann man Zukunft erforschen?

SIMONE ACHERMANN: Zukunftsforschung ist keine wissenschaftliche Disziplin. Wissenschaft ist vergangenheitsorientiert. Sie misst, was es gibt. Und die Zukunft gibt es nicht. Niemand weiss, was übermorgen ist. Doch wir können es mitbestimmen! Unsere Aufgabe ist es deshalb auch nicht, präzise Prognosen zu erstellen, sondern gesellschaftliche Entwicklungen systematisch in ihrer Gesamtheit abzubilden – mit allen möglichen Konsequenzen und Herausforderungen. Darauf aufbauend zeichnen wir Szenarien der Zukunft, die als Entscheidungsgrundlage dienen und den Diskurs fördern sollen.


SK:
Die Zukunft macht vielen Leuten Angst.

SM: Das Kommende ist immer Chance und Risiko zugleich. Aber Wandel ist die Grundlage des Lebens, Stagnation der Untergang jeder Gesellschaft. Wichtig ist dabei, zu fragen, wie wir mit Veränderung umgehen. Beispielsweise, wie stark wir uns dem technologischen Fortschritt anpassen wollen. Wir erleben zurzeit eine gefühlte Bescheunigung des Wandels und wissen nicht, wie darauf reagieren. Es gibt keine Einheitslösung. Für Start-Ups gilt etwas anderes als für Grossunternehmen oder staatliche Institutionen.


SK:
Können wir lernen, mit Wandel umzugehen?

SM: Eigentlich machen wir das alle unser Leben lang. Gleichwohl ist es gerade heute wichtig, sich früh mit Herausforderungen wie der Digitalisierung zu beschäftigen. Schon unsere Kinder werden mit solchen Fragen konfrontiert, etwa, wie sie mit Medien sinnvoll umgehen können.


SK:
Sie schreiben in Ihrem Buch «Wie wir morgen leben», dass die Zukunft viele Freiheiten bringt, aber auch mehr Eigenverantwortung. Werden wir bald zu Designern unseres Lebensstils?

SM: In gewisser Weise schon. Bis heute folgen wir mehrheitlich dem vorgespurten Pfad unserer Grosseltern: Bildung, Karriere, Familie, Pension. Weil wir in Zukunft länger leben, dabei mehr technologische Möglichkeiten und weniger traditionelle Werte haben, können wir unser Leben individueller gestalten. Durch das Einfrieren von Eizellen könnten wir beispielsweise Kinder nach der Karriere bekommen, um die Doppelbelastung zu umgehen.


SK:
Diese Veränderungen betreffen auch das Thema Arbeit. Was wird sich ändern?

SM: Mit 65 in den Ruhestand ist wahrscheinlich bald passé. Wir leben ja nicht nur länger, wir bleiben auch länger gesund. Gleichzeitig wird ein Teil der Jobs durch die Automatisierung wegfallen. Wir werden Arbeit grundlegend neu definieren müssen. Menschliche Fähigkeiten wie Empathie könnten als Abgrenzung zur Maschine wichtiger werden. Und wir werden uns vermehrt selbst Aufgaben geben müssen.


SK:
Und wie sieht die Zukunft des Wohnens aus?

SM: Auch hier werden wir verschiedene Wege gehen. Was wir aber sicher wissen: Wir werden immer zahlreicher und haben immer weniger Platz. Eine Lösung, die sich abzeichnet, sind flexible Wohnformen, die es erlauben, das Maximum aus einem kleinen Raum herauszuholen: beispielsweise Möbel, die sich per Knopfdruck verschieben und so verschiedene Funktionen erfüllen können. Technologie wird vermehrt in unseren Wohnungen Einzug halten: Von semi-intelligenten Maschinen wie Roboterstaubsaugern bis hin zu Sensoren und Kameras, um die Gesundheit von älteren Menschen zu überprüfen und so den Umzug ins Altersheim hinauszögern zu können.


SK:
Worauf freuen Sie sich persönlich?

SM: Ich schaue optimistisch in die Zukunft, denn wir hatten noch nie so viele Möglichkeiten, es gut zu machen. Als arbeitende Mutter würde ich zu einem Putzroboter nicht nein sagen.


SK:
Wovor fürchten Sie sich?

SM: Die Überforderung des Einzelnen wird weiter zunehmen.

Es ist unsere Aufgabe, die Kluft zu überwinden zwischen den Menschen, die aus sich das Maximum herausholen und solchen, denen das weniger leicht gelingt.

SK: Wie kann man sich optimal für die Zukunft fit machen?

SM: Indem wir uns frühzeitig mit den gesellschaftlichen Folgen des Wandels beschäftigen und nach Lösungen suchen. Hierzu lancieren wir gerade ein Projekt, das genau dieses Ziel verfolgt: Alle mit an Bord zu nehmen. Dabei gilt es, sich mögliche Formen der Zukunft vorzustellen, um entscheiden zu können, welche davon wünschenswert sind. Das heisst auch: Wir müssen sie uns wieder zu eigen machen, die Zukunft! Die beste Waffe ist Offenheit.


SK:
Können wir aus der Vergangenheit lernen?

SM: Ja, denn ohne Vergangenheit keine Zukunft. Die Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist künstlich. Das Vergangene bestimmt massgeblich das Kommende. Das heisst auch: So radikal wird sich der Mensch auch nicht verändern.

Simone Achermann

Simone Achermann ist Mitgründerin des Think Tanks W.I.R.E. Die Kulturwissenschaftlerin beschäftigt sich mit Entwicklungen und Trends in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Simone Achermann ist verantwortlich für die Buchreihe Abstrakt und Autorin diverser Publikationen, unter anderem von «Wie wir morgen leben. Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit». Sie ist Mutter zweier Kinder und lebt in Zürich.

Buchreferenz:
Wie wir morgen leben. Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit. Simone Achermann, Stephan Sigrist, NZZ Libro, 220 S., 34 Franken

MALEREI: WOJTEK KLIMEK
PORTRAIT: THE WIRE