PERSPEKTIVEN
Oliver Herwig • 13.11.2018

Hotelification
oder das leichte Leben

Warum wir im Alltag so leben wollen wie im Urlaub. Über den Wunsch nach Einfachheit und Rundumservice, der in vielen Wohnungen abzulesen ist.

Schon seltsam. Da ist man eingeladen bei Freunden (oder doch eher Bekannten), und es fühlt sich an wie in einem Hotel. Einem richtig guten sogar, mit Bellboy und einer Rezeption, an der sich gleich drei freundliche Mitarbeiter auf Englisch erkundigen, ob auch alles in Ordnung sei. Jedenfalls liegt da so ein Hauch von Urlaub in der Luft, während man durch das Appartement geführt wird: die Wände beige, die Tische cremefarben und die Sofastoffe in Naturtönen. Auf dem Tisch ein Bildband zu Angkor Wat oder Athos, sparsam gesetzte Akzente wie mokkafarbene Vasen mit je einer grossen Blüte, sonst wenig Persönliches. Ein Raum für gewisse Stunden, kein klassisches Heim. Etwas zu aufgeräumt, einen Tick zu kühl und ubiquitär. Alles hat seinen Platz und kein Stück scheint zu viel. Das kann natürlich das Werk langen Nachdenkens oder einer guten Innenarchitektin sein, aber nach einer Weile fühlt es sich so an, als könnten wir zu einem Drink tatsächlich hinaus treten auf eine Dachterrasse mit Blick über Rom oder Macao.

Das ist kein Einzelfall. In den letzten Jahren lässt sich eine schleichende Hotelification unseres Lebens beobachten (und erfühlen). All das, was wir zwischen Rio, Rom und Rimini liebgewonnen haben, holen wir Stück für Stück in die eigenen vier Wände – das sind Dinge, vor allem aber Stimmungen. So unterschiedlich diese Home-Hotels im Einzelnen auch ausfallen, drei Charakteristika kehren immer wieder: Einfachheit, eine sophisticated simplicity, die oft betont lässig daherkommt. Höchster Komfort, der meist erst auf den zweiten Blick zu spüren ist (etwa durch Dolby-Surround-Klang auch im Bad und punktgenaue Lichtsteuerung im Gang) sowie eine Vorliebe für gut gestaltete Dinge, oder sollten wir lieber sagen: Design. In der Summe ist das nicht nur ein Einrichtungsstil, das ist eine Lebenshaltung, die sich Bahn bricht. 

Wir sind beweglich, wir haben Geschmack und wir können uns etwas leisten. Das ist wohl die «Transformation Economy», von der B. Joseph Pine II und James H. Gilmore schreiben. Ihre These: Wir kaufen Glückserfahrungen, da wir alles andere bereits besitzen: «When we buy experiences, those purchases make us happier than when we buy things.»

Und diese Erfahrungen machen wir weniger im Alltag, sondern bevorzugt auf Reisen. Und darin sind Mitteleuropäer geübt. Das Bundesamt für Statistik meldet, dass im Jahr 2016 «jede in der Schweiz wohnhafte Person durchschnittlich drei Reisen mit Übernachtungen und 10,2 Tagesreisen» unternahm. Zwei Drittel fuhren übrigens ins Ausland.

Glücksmomente der Lässigkeit

Zugegeben, zu meinen persönlichen Glücksmomenten in letzter Zeit zählt ein B&B mit Blick über die Felsenküste von Polignano a Mare. Die Dünung, die kühle Brise, die frische Luft in einem Raum, der im Grunde nur aus einem Bett bestand und einer hohen Decke. Der Schrank war ein geschmiedeter Winkel, an dem die Kleider baumelten, alles andere verschwand in einem Container, der irgendwie ins Bett überging. Mehr Möbel brauchte es nicht. So lässig könnte es auch daheim zugehen. Der Luxus der Einfachheit, befeuert durch einige Tage am Meer. Eine Untersuchung der Boston Consulting Group von 2014 belegt, dass von den $1.8 trillion (1,8 Billiarden Dollar) fast 55 Prozent für Luxuserfahrungen («luxury experiences») ausgegeben wurden. Das sind oft auch Blaupausen für das eigene Leben.

Besonders einem Magazin darf man es zuschreiben, dass sich die halbe Welt zwischen Kakao und Perlmutt eingerichtet hat: Der Wallpaper*-Stil aus den Neunziger Jahren ist inzwischen ubiquitär und schwappt über Reisen zurück ins Wohnzimmer. «Ob Braun, Grün, Ocker oder Senf – in Kombination mit natürlichen Materialien wie Wolle, Samt oder Naturholz kann man mit den Farben eine behagliche Atmosphäre schaffen, die gut zur kalten Jahreszeit passt», sagt Dagmar Haas-Pilwat auf RP-Online. Das klingt tatsächlich so, als ob hier ein Hotel Pate stand. Eines wie der Bayerische Hof in München. Der «Süddeutsche»-Autor Franz Kotteder beschreibt die 15.000-Euro-Suite des Hauses wie folgt: Designer Alex Vervoordt setze «auf gedämpfte Farben zwischen beige und grau und arbeitet viel mit Naturmaterialien, Stein und Holz. Auch Holzmöbel scheint er zu lieben, die ein bisschen so aussehen, als wären sie aus Wracks jahrhundertealter, gesunkener Galeonen geborgen worden.» Und dann zitiert der Journalist den Amsterdamer Innendesigner Vervoordt, dessen Ziel es sei, «Frieden zu erzeugen. Die Leute sollen in dieser aufgeregten Grossstadt in ihrem Hotel die Ruhe entdecken.» Naturnahe Materialien seien dafür gut geeignet. Solche Natur-Kultur findet sich in den verschiedensten Facetten. Es muss nicht einmal ein Luxusressort sein, selbst preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten wie MotelOne zeigen in ihrer klugen Kombination aus Design und gnadenloser Reduktion, dass man durchaus im Hotelzimmer und der Hotellounge mit ihren Sitzinseln leben kann, wobei vor allem die Gruppe mit Arne Jacobsens Egg Chair zum Markenzeichen der Kette geworden ist. Dazu kommt zumeist eine bequeme Ledersofalandschaft. Stefan Lenze, Geschäftsführer und Head of Development, bestätigt die Entwicklung: «Unser Design wird immer individueller, künstlerischer, luxuriöser und damit auch der Erlebnisfaktor.»

Bilder als ultimative Statusanzeige

In Ordnung, was aber hat all das mit dem ganz normalen Wohnen zu tun? Wir sind eben immer öfter auf Achse. Eigentlich dauernd. Geschäftlich oder einfach mal den Weekender über die Schulter geworfen und ab zum Flughafen. Dieses Gefühl schwappt zurück in die eigenen vier Wände. Und mit ihm die Bilder, die wir selbst posten oder auf Instagram und anderen Plattformen finden. Ihre Dauerpräsenz prägt den Blick für das, was wir als schön und als normal empfinden. Früher galt eine Psychologie des Erwerbs. Der Urlaub wurde durch Souvenirs in den Alltag eingewoben. Durch echte Dinge. Der Koffer parkte im Keller, seinen Inhalt packten wir in die Wäsche oder vorne auf den Kühlschrank. Ausgerechnet Magnete sind zur Nummer eins der beliebtesten Souvenirs aufgestiegen, noch vor Kunsthandwerk, Schlüsselanhängern und «landestypischen Kleidungsstücken», sagt eine aktuelle Statistik (Statista). Dazu kommen diverse Trash-Souvenirs (das Eiffeltürmchen, die Schneekugel mit dem Matterhorn oder der schiefe Turm von Pisa vorne auf der Unterhose) sowie Alkohol. Was aber bleibt, wenn der letzte Ramazzotti, Burgunder oder Limoncello geleert ist, die Magneten angeklebt und die Lieben daheim mit Pasta, Billigsonnenbrillen und Sandalen versorgt sind? Dann kehrt die Sehnsucht zurück und das Kopfkino beginnt. Weisst du noch: Das Zimmer über den Klippen? Die Brise, die durch die Eingangshalle wehte? Die Lobby mit Blick auf Palmen?

 

Ausgerechnet Magnete sind zur Nummer eins der beliebtesten Souvenirs aufgestiegen, noch vor Kunsthandwerk, Schlüsselanhängern und «landestypischen Kleidungsstücken», sagt eine aktuelle Statistik (Statista).

2017 waren über 54 Millionen Deutsche unterwegs, sie gaben insgesamt 73,4 Milliarden Euro aus, etwas über 1.000 Euro pro Person und Reise (Statista). Wir investieren in Erlebnisse und Bilder, auch, weil jeder Urlaub in den sozialen Netzwerken nachweht. Da ein Instagram-Bild, dort ein flotter Tweet, und auf Handy und Rechner Gigabyte von Daten. Bilder sind zur härtesten Statuswährung geworden. Mit ihnen einher geht die Veränderung des Heims. Das Leichte, Luftige der Freizeit schwappt in den Alltag – mit lichten Stoffen, leichtem Mobiliar, hellen Farben und perfekter Technik. Letztlich geht es um Atmosphären.

Wohnen nach dem Plug-and-Play-Prinzip

Sind Hotels der neue Massstab der Innenarchitektur? Ganz sicher, da sich unsere Vorstellung vom Wohnen gerade verändert. In der Kombination von gut gestaltetem Interieur und makellosem Service öffnet sich ein Markt, der die Grenzen zwischen dem Standard-Hotelzimmer alter Prägung, ultra-individuellem Airbnb und dem eigenen Heim verschwimmen lässt. Das «Serviced Apartment» bietet Langzeitübernachtung mit den Vorzügen des Hotels (Wäsche, Reinigung, Anonymität) und den Vorteilen des eigenen Heims (individuell, gemütlich, echter Rückzugsort). Der Anteil dieser Kategorie am deutschen Hotelmarkt liegt bei gerade einmal drei Prozent, berichtet die «Allgemeine Hotel- und Gastronomiezeitung», ihr wird aber ein grosses Wachstumspotential zugesagt. An gleicher Stelle prognostiziert Zukunftsforscher Stephan Jung, dass die Generation Y rund 17 Mal den Job wechseln und 15 Mal umziehen werde. Da müsse «Umziehen und Wohnen nach dem «Plug-and-play-Prinzip» funktionieren.» Viel bemerkenswerter also ist, wie wir als Dauerreisende unsere Vorstellungen vom Heim verändern. Die Bildwelten bewegen sich zwischen ostentativer Lässigkeit, unsichtbarem Komfort und Service, der uns Wünsche von den Augen abliest. Das bedeutet eine Rundumversorgung, wie sie es früher nur bei Mama gab – ohne erhobenen Zeigefinger, womöglich dafür mit Butler und Chauffeurservice. In Hamburg baute Xing-Gründer Lars Hinrichs das «Apartimentum», ein hoch vernetztes Leben und Wohnen für die Expats unserer Zeit. Hinrichs vermietet «Kubikmeter Lebensqualität». Das personalisierte Hotel zeigt, wie flexibel wir beim Zuhause geworden sind. Hier arbeiten und dort wohnen. Multilokalität nennen das Soziologen, wenn immer mehr Menschen zugleich mehrere Wohnorte haben, und zwar nicht nur Ingenieure mit Wohnung in Bern und Arbeitsort Basel, sondern auch Handwerker in Sachsen, die am Flughafen Berlin arbeiten. In manchen Metropolen leben gerade noch 18 Prozent der Haushalte in klassischen Familien. Alle anderen werkeln als atomisierte Arbeiter der Generation Easyjet. Wir können inzwischen auf Bibliotheken ebenso verzichten wie auf Schrankwände, aber nicht auf Steckdosen und WLAN.

In manchen Metropolen leben gerade noch 18 Prozent der Haushalte in klassischen Familien. Alle anderen werkeln als atomisierte Arbeiter der Generation Easyjet. Wir können inzwischen auf Bibliotheken ebenso verzichten wie auf Schrankwände, aber nicht auf Steckdosen und WLAN.

«Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes», sagte Lenin 1920, heute ist Wohnen Breitband plus Elektrifizierung der ganzen Welt. Es stimmt. Wer einmal loszieht, kehrt verändert zurück. Und weil wir immer öfter und weiter verreisen, ist es bald nicht mehr leicht zu sagen, wo wir genau stehen bei der Veränderung. Eines jedenfalls scheint sicher: Wir wohnen immer öfter an immer mehr Orten. Und die können dann ruhig so aussehen wie ein Serviced Apartment. Hauptsache, der Empfang stimmt.

Illustration: Josh Schaub