Oliver Herwig • 12.06.2018

Entschärfen Mini-Häuser
die Wohnungsnot?

Schnell gebaut und ultraleicht sind Mini-Häuser en vogue. Doch sind sie ein probates Mittel gegen die Wohnungsnot? Zahlreiche Bonsai-Entwürfe versprechen platzsparende Lösungen, doch die zentrale Frage bleibt: Wie wollen wir in Zukunft leben? Eine Spekulation.

Wie sieht die Wohnung von morgen eigentlich aus? «Transportabel», sagen die einen, nippen Chai-Tea und verstauen dann Notebook und Pad im Rucksack. «Augmentend», flüstern die anderen und fahren mit ihrem Smartphone über den Frühstückstisch. Kalorienzahlen und Nährwerttabellen blinken auf, sobald sie über Müsli und Joghurt fahren. Es stimmt schon: Da mieten wir uns per Airbnb rund um den Globus ein, tragen unser Büro in der Hosentasche und erleben Technik als dritte Haut, die uns selbstverständlich mit unseren Liebsten verbindet, während die Wohnung im Grunde immer noch das ist, was sie vor einem Jahrhundert war: Ein Haufen Beton, Ziegel, Leitungen und Rohre, in dem wir einen Grossteil unseres Lebens verbringen.

Nun ist Immobilien-Wirtschaft keine Rocket-Science. Sie verkauft, was sich verkauft, also Häuser und Wohnungen, deren Schnitte sich so wenig ändern wie Mode in Nord-Korea, ausser, dass seit einiger Zeit die Wohnküche angesagt ist und morgen womöglich eine Badewanne im Schlafzimmer steht.

Es klingt paradox. Auf den ersten Blick leben wir viel bunter und leichter als früher, tatsächlich aber nähert sich das Wohnen immer mehr einem Produkt an, das genau definiert und produziert werden kann.

Statistiken können ja nicht lügen (;-). Schon vor zehn Jahren nahmen demnach Singles knapp ein Drittel des Wohnungsmarktes ein, und in Grossstädten dominieren inzwischen Ein- und Zweizimmerappartements. Die grosse, repräsentative Wohnung wird zum Auslaufmodell einer Rentnergeneration, während sich immer mehr Paare freiwillig einschränken und sich dafür eine Zweiwohnung in der Sonne leisten.

Da klingen Minihäuser doch ziemlich interessant. Vor zwei Jahren bot der Berliner Architekt Van Bo Le-Mentzel, der übrigens schon mit seinem provokanten Hartz-IV-Möbeln aufgefallen war, ein 6,4 Quadratmeter grosses Bonsaihaus an, das «Tiny100». Es ist transportabel. Drinnen gibt es eine kleine Küche und eine Couch. Auf der Leiter geht es ins Stockwerkbett, darunter stecken Dusch-Klo und Küche. Ein verschärftes Jugendzimmer also. «Traum oder Alptraum», titelte der Stern prompt. Sofort war klar: Hier geht es nicht mehr um Fragen der Gestaltung, hier geht es ans Eingemachte: Wie wollen wir leben – und zwar als Gesellschaft? Van Bo Le-Mentzel propagiert mit seinem zwei Meter breiten Wohnmodell nämlich ebenso Beschränkung und Ressourceneffizienz wie Verteilungsgerechtigkeit.

Tiny100

Fotografie v.o.n.u.: Tinyhouse University, Philipp Oberkirchner, Daniel Hofer

Da trifft es sich gut, dass Mia Behrens und Johanne Holm-Jensen, zwei junge dänische Architektinnen, den nächsten Schritt gehen. Ihr Projekt «Building Blocks» verbindet modernste Fertigungstechniken (CNC Fräsmaschinen) mit den Vorzügen der Open-Source-Community: Sobald ein Entwurf veröffentlicht wurde, ist er «in der Public Domain und frei verfügbar», heisst es, also «für jeden zu verwenden, zu ändern und zu teilen.» In Zukunft könne ein «Haus heruntergeladen, angepasst, gebaut und im Laufe der Zeit ständig verbessert werden.» Plötzlich klinkt sich der Hausbau ein in die umfassende Modernisierung unserer Zeit und verlässt seinen handwerklichen Kontext, der in Stückzahl eins denkt und für jedes Problem eine spezifische Lösung vor Ort entwickelt. Das kann man bedauern, weil damit auch das Besondere der Architektur verlorenzugehen droht, angesichts von explodierenden Mieten und extremer Wohnungsnot aber dürfen Bürger durchaus fragen, ob wir uns Einzelanfertigungen noch leisten können (oder wollen).

«Building Blocks» entstand während eines sechsmonatigen Aufenthalts bei SPACE10. Die Vision: kostengünstige, nachhaltige und modulare Häuser für jedermann – und damit die Möglichkeit, Häuser von morgen zu demokratisieren. Jeder soll von «überall das Open-Source-Design herunterladen, das Haus an verschiedene Landschaften, Terrains und Kulturen anpassen, die notwendigen Teile lokal drucken und das Haus relativ schnell und einfach zusammenbauen.» Der modulare Prototyp aus FSC-zertifiziertem Sperrholz ist 49 Quadratmeter gross und lässt sich an die Bedürfnisse potentieller Bauherren anpassen. Die Dimensionen sind so gewählt, dass man zumindest in Dänemark «keine Genehmigung der örtlichen Bauaufsichtsbehörden benötigt.» Durch eine CNC-Fräsmaschine und preiswertes Baumaterial drückten Mia Behrens und Johanne Holm-Jensen die Kosten auf gerade € 8.000. Das sind sagenhafte € 163 ($ 192) pro Quadratmeter.

Building Blocks

Fotografie: Niklas Adrian Vindelev
Visualisierung: Mia Behrens und Johanne Holm Jensen

Ihr Manifest liest sich denn auch wie ein Epochenumbruch. Es zeigt, wie sich die Haltung der Architekten ändert, weg vom kontextspezifisch und individuell gestalteten Haus («Architektur der Vergangenheit») zu einem modularen System: «Wir bauen ständig grösser, schneller und kostengünstiger, um Prozesse zu optimieren und Kosten zu minimieren, und haben weniger Möglichkeiten, mit jedem Detail eines Gebäudes akribisch zu arbeiten.» Das ist natürlich kein vollständiger Abgesang an alte Traditionen, schliesslich wollen Mia Behrens und Johanne Holm-Jensen untersuchen, wie und ob «moderne Fertigungstechnologien mit handwerklichem Können kombiniert» werden können. Und doch bieten sie einen Werkzeugkasten, der Architektur für alle verfügbar macht. Entsteht hier ein Spotify für Dreidimensionales? Zumindest muss jeder selbst Hand anlegen. Noch sind konstruktive Probleme zu lösen: etwa der Abfluss von Regenwasser – eine Aufgabe, die Mia Behrens und Johanne Holm-Jensen bewusst der Community übertrugen. Auch das ist Neuland. Hier ist die Betaversion, macht was draus.

Und weil selbst ein solches Projekt nicht ohne Inspiration und Vorgänger auskommt, nennen Mia Behrens und Johanne Holm-Jensen das Sozialwohnungs-Projekt von Elemental im chilenischen Quinta Monroy ebenso wie das Mini House-Konzept von Mette Lange oder Peter Fribergs Sommerhaus in Ljunghusen, Schweden (neben anderen). Natürlich könnte man die Liste verlängern, etwa mit Stefan Eberstadts «rucksack house» von 2004. Der Konzeptkünstler entwickelte einen parasitären Bau, der sich in luftiger Höhe an bestehende Häuser andockt und deren Infrastruktur nutzt. Im Grunde hatte Eberstadt bewohnbare Skulpturen gestaltet und Zeichen der Veränderung in unseren Städten gesetzt. Der mit Birkensperrholz verkleideten Stahlrohrkäfig Rucksack House war 2006 sogar auf der Internationalen Architekturbiennale in Venedig zu sehen.

Rucksack House

Fotografie: Stefan Eberstadt

Zwischen amerikanischem Luxus-Trailer-Home und High-Tech-Datscha schweben viele Entwürfe, die in den letzten 15 Jahren das Leben in den vier Wänden auf den Kopf stellen wollten. Doch bis auf Japan, wo Mini-Häuser zum Strassenbild gehören, will sich das Konzept nicht recht durchsetzen, gleich, ob es sich um «Su-Si» des Vorarlbergers Johannes Kaufmann handelt, oder «Cocobello» des Münchner Architekten Peter Haimerl. Bislang jedenfalls bleibt das leichte Sommerhaus ein faszinierender Traum. Und all die Pavillons und temporären Bauten, die von Nomadentum und leichtem Leben reden, bleiben Provisorien auf Zeit, die im Baurecht kaum Platz haben und schon gar nicht in der Planung der Investoren, die nach dem «Markt» bauen.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Zukunft von gestern noch immer etwas grandioser daherkommt als heutige Experimente – schon vor 50 Jahren entwarf der finnische Architekt Matti Suuronen mit seinem «Futuro» so etwas wie die Mutter aller Leichtbauten – ein Ufo, in dem man sich sehr gut eine abgedrehte Party vorstellen kann. Die Party aber ist vorbei. Stattdessen ist die Wohnungsnot – lange Zeit kein Thema in Europa – zurück. Und mit ihr die Frage, wie Architekten, Politiker und Planer damit umgehen sollen. «Architektur sollte flexibel, einfach zu bauen und erschwinglich sein, ohne die Qualität zu beeinträchtigen», fordert Mia Behrens und öffnet mit dem Open-Source-Projekt «Building Blocks» tatsächlich ein Fenster in eine Welt, in der jeder seinen Traum vom Wohnen verwirklichen kann, sofern irgendwo eine CNC-Fräse mit Internetanschluss herumsteht. Das ist ein erster Schritt. Wir alle werden einen zweiten, dritten und vierten tun müssen.

Film: Jay’s Tiny House Tour