JOAN BILLING & SAMUEL EBERLI • 31.08.2018

 

Die Schönheit der «New
Nordic Cuisine»? Ihre Klarheit und Reduktion

Kühle Fjorde, glasklare Seen, unendliche Weiten und tiefe Wälder der kargen skandinavischen Landschaft verbinden die Menschen seit jeher eng mit der Natur. Gutes Handwerk, Zeitlosigkeit und Ressourcenschonung zeichnen das nordische Lebensgefühl aus. Es bietet einen Ausgleich und ist ein bewusster Ruhepol zum hektischen Alltag unserer Gesellschaft. Es verwundert deshalb nicht, dass sich der Trend der «New Nordic Cuisine» als Bewegung um die halbe Welt verbreitet hat.

Geniessen als Katalysator für den Gesellschaftswandel
Essen hat nicht nur mit alltäglicher Nahrungszufuhr zu tun, sondern ist zum regelrechten Genuss in unserer Gesellschaft geworden. Wir zelebrieren und planen bewusst viel Zeit für die Vorbereitungen und das Geniessen von Essen ein. Nicht immer ist es möglich, täglich ein ausgiebiges Ritual der Mahlzeiten zu halten, und doch ist es offensichtlich, dass unsere Gesellschaft mit Nahrungsmitteln zunehmend bewusster umgeht. Es wird zu einem Kult, sich vertieft mit Essen zu beschäftigen. So entwickelt sich das neue «Geniessen» zum Katalysator unseres Gesellschaftswandels. «Genuss» steht klar für körperliches und geistiges Wohlbefinden. Es ist eine positive Sinnesempfindung, die im Gehirn entsteht, bei der Geruch und Geschmack mit früheren Erinnerungen verknüpft und ausgewertet werden. Daraufhin folgen Ausschüttungen von Botenstoffen, die positive Gefühle auslösen. Genuss hat auch etwas mit der Fähigkeit zur Musse und Entspannung zu tun, was unsere Gesellschaft in der heutigen, stressbelasteten Zeit dringend benötigt. Deswegen verwundert es nicht, dass Essen und die damit verbundene Rückkehr zur Gastlichkeit zu einem regelrechten Megatrend geworden sind. Diese Entwicklung entdecken wir bei genauerem Hinsehen überall in unserer Gesellschaft. Die neue Generation von Designern und Künstlern lebt es uns bereits vollumfänglich vor.

Köche sind die neuen Designer des Vergänglichen, ausgelöst durch die Sehnsucht nach verlorenen Dingen wie Tradition, Ruhe, Zeit und Gemeinschaft.

Wie die «New Nordic Cuisine» die Welt verändert
«New Nordic Cuisine» heisst Kochkunst mit Nachhaltigkeitsanspruch und gehört zu einem der prägendsten Trendentwicklungen in unserer Gesellschaft. Das Menü aus «Real Food» folgt dem Rhythmus, den Launen und Gesetzen der Natur. In der Küche der Zukunft haben die Köche ihre eigenen Beete und Bäume mit längst vergessenen Sorten. Ihr grosses Handwerk besteht darin, die kompromisslos lokalen Produkte von maximaler Qualität so naturbelassen wie möglich zuzubereiten. Back to Nature. Diese neue Art des Kochens wird in einem Zug mit dem Namen des Restaurants «Noma» genannt, eines der ersten aus dieser Bewegung, das inzwischen vier Mal zum Besten der Welt erkoren wurde. Auch das «Fäviken Magasinet» gehört klar zu den Pilgerstätten der Spitzenküche im Norden. Es liegt am Ende der Wildnis, umgeben von unberührter Natur, wo Bären und Wölfe noch durch die angrenzenden Wälder streunen. Sein Besitzer – Magnus Nilsson – kocht wie kein anderer: eins mit sich und der Natur.

Fernab der Zivilisation
Es ist eine weite, ruhige Reise durch eine karge Landschaft bis zum Restaurant Fäviken, das rund acht Autostunden nördlich von Stockholm, knapp unterhalb des Polarkreises liegt. Schilder gibt es keine. Man fährt auf Landstrassen, vorbei an Holzhäusern in Taubenblau und Falunrot, quer durch Nadel- und Birkenwälder und an Dutzenden schwarz glänzenden Seen vorbei. Schliesslich gelangt man an einen historischen Getreidespeicher fernab der Zivilisation, der um 1745 auf zwei Etagen errichtet wurde.

Der Ort lädt dazu ein, in eine mystische Welt einzutauchen. Der Empfang mit Geruch von Feuer, Kohle und Rauch erinnert an Kindheitserlebnisse im Wald.

Die Erscheinung von Magnus Nilsson, dem Chefkoch und Besitzer, ist eindrücklich. Sein blonder Bart, seine langen, leicht strähnigen Haare und der passende Rentierfellmantel erinnern an einen Wikinger oder an Leonardo DiCaprio in seinem Oskar gekrönten Film «The Revenant – Der Rückkehrer».

Archaisches Design und nachhaltige Lebensmittel
Der Innenraum des Restaurants Fäviken aus rohem Holz wirkt zeitlos und archaisch. Am offenen Kamin im Erdgeschoss warten die Amuse-Gueules auf die Gäste, im ersten Stock, der für rund 16 Gäste Platz bietet, folgt dann das Menu. Gegessen wird an grob gezimmerten Holztischen und Stühlen. Da nur das gekocht wird, was die Natur gerade anbietet, erhalten die Gäste keine Speisekarte. Stattdessen wird eine feine Auswahl an Speisen angeboten, die das Restaurant und seine Vision perfekt repräsentieren, und zwar pure Reduktion auf den Geschmack und das Produkt. Es gibt knusprige Flechten, aus dem unmittelbaren Wald geerntet, mit frischer Crème fraîche. Feines Elchfleisch wird mit Waldkräutern, frisch gebackenem Brot, frischer Butter und einer Schüssel Möweneiern aufgetischt. Eindrücklich ist der halbe Meter lange Rinderknochen, der über dem offenen Feuer grilliert und vor den Gästen auf dem Hackstock zersägt wird. Auch die Dessertinszenierung ist überzeugend. So wird das aus Birkenrinden gewonnene Eis auf Steinplatten mit jungen Birkenblättern und Saft garniert. Würden alle Baumrinden, -säfte und -blätter so gut schmecken, würden wir alle mehr Bäume trinken oder essen! Inzwischen findet man das mystische Birkenwasser auch bei uns, weit weg vom Norden.

Radikaler Selbstversorger
Magnus Nilsson ist ein eigensinniger Selbstversorger und radikaler Verfechter regionaler Produkte. Alles, was in seinem Garten und im unmittelbaren Wald wächst, auch Blätter, Baumrinden und Flechten, landet in seinen Kochtöpfen. Das Fleisch stammt von den eigenen Tieren, die unter freiem Himmel auf dem 9`000 Hektar grossen Gut heranwachsen und der Fisch aus dem eigenen See. Er hegt und pflegt nicht nur alles vom Samenkorn bis zur Ernte, sondern er jagt und erlegt selbst Elche und Birkhühner. Lokal befreundete Lieferanten ergänzen sein Repertoire mit ihren köstlichen Naturprodukten. Da der Winter im Norden bis in den April dauert, legt die kleine Küchencrew vom «Fäviken Magasinet» ein, trocknet, dörrt, räuchert oder lagert in Essig, Molke oder Sand und lässt mehrere hundert Kilo Gemüse, Früchte, Kräuter, Pilze, Fleisch und Fisch in Salzlaken fermentieren und mit Edelschimmel reifen.

Nilsson hat diese althergebrachten, traditionellen Techniken zum Aufbewahren von Lebensmitteln im Bauernhof seiner Grosseltern kennengelernt. Er pflegt und hegt diese alten Rituale und entwickelt sie weiter. Damit sichert er die traditionellen Techniken für die nächste Generation und führt sie so in die Zukunft des 21. Jahrhunderts.

Wer diese hyperlokale und produktorientierte Küche einmal gekostet hat, vergisst sie nie mehr. Dieser Eindruck bleibt für immer. Dafür sorgt auch das Buch zum Fäviken mit den herrlich schönen Fotos von Erik Olsson. Aber bitte keine spontanen Besuche, die Warteliste im Fäviken ist lang!

Wer nicht so weit reisen möchte, der hat auch im Restaurant «Fulgurances» in Paris eine Chance, diese neue Küche kennenzulernen. Hier stellen sich alle vier Monate die top Sous-Chefs der Welt wie Sam Miller wechselnd unter Beweis, bevor sie ihre eigenen kulinarischen Tempel eröffnen. Zu empfehlen ist die kulinarische Reise in Form des Dreigang-Menüs am Mittag, das auch für das kleine Portemonnaie geeignet ist, Hochgenuss garantiert. Reservieren nicht vergessen, die rund 28 Sitzplätze des «Fulgurances sind meist belegt.

Die «New Nordic Cuisine» ist zu einem Synonym für die wichtigen und bedeutsamen Dinge des Lebens geworden, die somit wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und einen Gegenpol zum hektischen Alltag bilden.

Fotografie: Petter Cohen

Weitere Informationen

Fäviken Magasinet, Fäviken 216, 837 94 Järpen
Tel: 0647-401 77, Fax: 0647-401 47
info@favikenmagasinet.se

Fotografie: Petter Cohen