Andrea Wiegelmann • 03.07.2018

Deine Wohnung ist dort, wo Du bist

Mit der raschen und weiten Verbreitung der Breitbandtechnologie und der Entwicklung des Smartphones hat sich in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre unsere Nutzung von Raum, Infrastrukturen und Dienstleistungen grundlegend gewandelt. Das Angebot an digitalen Services verändert unseren Lebensrhythmus und hat auch Auswirkungen auf das Wohnen.

Die Kuratoren des Schweizer Pavillons auf der diesjährigen 16. Architekturbiennale in Venedig, der für seine Installation «Svizzera 240: House Tour» mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, zeigen den zeitgenössisch standardisierten Wohnungsbau in der Überlagerung unterschiedlicher Skalierungen ausgewählter Grundrisssequenzen. Wohnen ist hier auf definierte Nutzungen und normierte Bauteile programmiert. Auch wenn die Kuratoren explizit darauf hinweisen, dass sie mit ihrer Installation keine Kritik an den Standards im Wohnbau üben, so ist die Wirkung der sich wiederholenden Szenen in unterschiedlichen Massstäben dochernüchternd. Die normierten Vorstellungen der Wohnbauindustrie sind weit davon entfernt, Freiräume zu eröffnen und damit weit entfernt von den Fragen, die unser Wohnen und Leben in einer digitalisierten Gesellschaft prägen werden.

Schon 1985 hat das Autorenduo Philip J. Stone und Robert Luchetti beschrieben, wie die Entwicklung des schnurlosen Telefonapparats unsere Arbeitsweise und damit die Nutzung von Bürobauten verändern wird. Mit der Verbreitung von Breitbandtechnologie, Smartphones und der Einführung der AppStores als Verkaufsportale für mobile Applikationen hat sich in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre unser Umgang mit Raum, Infrastrukturen und Dienstleistungen tatsächlich grundlegend gewandelt. Digitale Services verändern die Nutzung städtischerStrukturen und damit unseren Lebensrhythmus.

Während bis zum Ende des 20. Jahrhunderts privater Besitz – die eigene Wohnung, das Haus, das Auto – der Manifestation unseres sozialen Status diente, hat die fortschreitende Digitalisierung und damit die gesteigerte Flexibilität vor allem in urbanen Zentren zu einer Werteverschiebung geführt. Wir präsentieren uns in sozialen Medien, physischer Besitz scheint zweitrangig geworden, und «Sharing» ist das Modell, das dieser Gesellschaft entspricht.

Teilen als Phänomen unserer Zeit

Was mit «Airbnb», der Ver- und Anmietung von Wohnraum von Privatpersonen an Privatpersonen begonnen hat, ist inzwischen auch in anderen Branchen angekommen. Das Zürcher Unternehmen «sharoo» bietet eine Plattform zur Vermietung von Autos und entspricht damit diesem Trend. «Das Auto hat als Statussymbol ausgedient, und immer mehr Menschen wohnen ohne eigenes Auto in urbanen Gebieten, ohne auf den Komfort eines Autos verzichten zu wollen. Mobilität auf Knopfdruck ist gefragt», so Jana Lév, Leiterin der strategischen Unternehmensentwicklung bei sharoo. «Fahrzeuge bleiben im Schnitt 23 von 24 Stunden am Tag ungenutzt. Auch deshalb, weil viele Menschen ihr Auto nicht für den Arbeitsweg brauchen, gerade in den Städten. Und genau in dieser Zeit kann esvermietet werden, an Privatpersonen, Firmen, Städte und auch Wohnsiedlungen.»Auch für diese Form des Teilens ist das Smartphone und die Entwicklung von Applikationen eine Voraussetzung. Mieter und Vermieter können sich, ähnlich wie bei Airbnb, auf der Plattform registrieren und die Autos per App buchen. Jana Lév spricht von «Mobility on demand».

Diese Entwicklung lässt sich auch für das Wohnen feststellen: In dem Masse, wie der private Besitz an Bedeutung verliert, verliert auch der private Wohnraum als Ort der Repräsentation seine Relevanz. Rückzug findet, wenn überhaupt, individualisiert statt. Es braucht dazu nicht einmal mehr die eigene Wohnung. Das entsprechende Angebot in Co-Working-Areas, Sportstudios, Bibliotheken oder auch Hochschulenwird mehr und mehr genutzt.

Damit werden klassische Aufteilungen zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit hinfällig. Wohnen ist dann vielleicht eine Beschreibung für all unsere Aktivitäten, wenn nicht diese begrifflichen Definitionen ganz verschwinden werden. Doch was bedeutet dies für unsere bisher sehr monofunktional konditionierten Gebäude und unsere Städte?

Für Oke Hauser, Creative Lead MINI LIVING, ergeben sich daraus Perspektiven in der Programmierung unserer urbanen Zentren:

«Städte sind ambivalent im Charakter. Einerseits sind sie starr in ihrer Anlage durch Gebäude und Infrastrukturbauten, auf der anderen Seite unterliegen sie aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen und technischen Innovationen einem kontinuierlichen Wandel. Neue Aspekte der Mobilität wie autonomes Fahren oder Sharing-Angebote ermöglichen es, den innerstädtischen Raum neu zu denken.»

Auf diese Weise werden neue Optionen für die Belebung von bisher monofunktionalnutzbaren Orten wie Parkhäusern, Garagen oder auch zu gewissen Tages- oder Nachtzeiten nicht frequentierten Objekten eröffnet. Wie diese Hybride aussehen können, wie die Interaktion zwischen den unterschiedlichen Aktivitäten auch räumlich gefasst werden kann, damit beschäftigen sich Denkfabriken weltweit.

Einen Diskussionsbeitrag lieferte MINI LIVING im Rahmen des diesjährigen Salone delMobile in Mailand. Die Installation «MINI LIVING – BUILT BY ALL», die mit den Londoner Büro Studiomama entwickelt wurde, hat eine Wohn- und Arbeitslandschaftpräsentiert, in der die unterschiedlichen Nutzungen bis hin zum individuellen Freizeitprogramm zusammengeführt wurden. Ein Gebäude, das ein solches Setting ermöglichen kann, ist weit entfernt von unseren heutigen standardisierten Büro- und Wohngrundrissen. In Mailand befand sich die Installation in einer leerstehenden Fabrik. Auch Supermärkte oder nicht ausgebaute Büroetagen würden sich für eine solche Nutzung anbieten. Wird damit die Zuschreibung einer definierten Gebäudenutzung überflüssig?

BUILT BY ALL

Die in den Raum gestellten Versorgungseinheiten bieten auf minimaler Fläche Raum für Rückzug, zum Arbeiten und zur Freizeitgestaltung und schaffen in Verbindung mit der umgebenden Infrastruktur ein hohes Mass an flexiblen Nutzungs- und individuellen Aneignungsmöglichkeiten. Design: MINI LIVING mit dem Londoner Architekturbüro Studiomama; Quelle/Fotograf: ©MINI

Für Oke Hauser zeichnet sich das Gebäude der Zukunft durch eine robuste Struktur aus, die unterschiedliche Nutzungen integrieren und somit flexibel auf die jeweiligen Anforderungen an Wohnen, Arbeiten oder Öffentlichkeit reagieren kann. Das Wohnen verschmilzt als ein Teilaspekt mit Arbeiten und Freizeit, auch dem Standortwechsel. Jana Lév sieht zukünftig auch das Auto als mögliche Herberge dieser Nutzungen: «Wir beobachten die Entwicklung rund um selbstfahrende Fahrzeuge sehr genau und gehen davon aus, dass durch diese Technologie eine erweiterte Anwendung möglich wird. Die Zeit, die wir heute auf der Strasse verbringen, häufig im Stau, kann zum Arbeiten, online Einkaufen oder Entspannen genutzt werden.» Lév vermutet, dass das eigene Auto damit zunehmend an Bedeutung verlieren und dass Modelle wie das von sharoo weiter wachsen werden.

Wenn unsere Stadträume mehrfach genutzt werden können, dann stellt sich auch die Frage nach ihrer Gestaltung. Müsste der städtische Raum zukünftig anders konditioniert sein? Für Oke Hauser geht eine solche Frage nicht an den Kern der Sache heran: «Vielleicht ist der Mangel an geeignetem Raum gar nicht das Problem, sondern der fehlende kreative Umgang mit dem vorhandenen Raum. Wir suchen immer nach unentdeckten räumlichen Potenzialen in der Stadt. Die Installation in Mailand zeigt exemplarisch wie bestehender, ungenutzter Raum in der Innenstadt neu programmiert werden kann.»

URBAN CABIN

Die Installation thematisiert unsere zukünftigen, urbanen Wohngewohnheiten durch die kreative Nutzung von vorhandenem Raum. Das «Micro-House» untersucht die Ansprüche an zeitgenössisches Wohnen in unterschiedlichen Kontexten. Design: MINI LIVING mit den New Yorker Architekten Bureau V; Quelle/Fotograf: ©MINI

Aneignung von Raum

«Die Idee der Hybridnutzungen spielt daher bei unseren künftigen Projekten eine zentrale Rolle», erklärt Hauser in diesem Zusammenhang. «In Shanghai eröffnen wir im kommenden Jahr ein Projekt, das exemplarisch genau dafür steht. Wir schaffen eine kleine Stadt im Haus, die einen vielschichtigen Mix aus Wohnlösungen, Arbeiten und auch Öffentlichkeit in Form von Kultur- und Freizeitangeboten beinhaltet. Durch die Integration von öffentlichen Funktionen entstehen Gebäude, die sich eng mit dem Charakter der jeweiligen Stadt vernetzen und somit auch einen Mehrwert für den Ort, die Nachbarschaft und die Bewohner generieren.»

Es ist eben dieses Verschmelzen der Funktionen, das sich auf den städtischen Raumauswirkt. Sind Funktionen nicht mehr festgeschrieben, wird eine multifunktionale Nutzung denkbar, der Parkplatz könnte zum Markt, die Strasse zum Shared Spaceund in der Folge der urbane Raum vielfältiger werden.

Wie also sieht die Stadt der Zukunft aus und wie das Wohnen darin? Angesichts der Vielzahl möglicher Einschreibungen wahrscheinlich offener als es heutige (Wohn-)Grundrisse ermöglichen, weniger definiert und weitaus zufälliger, spontaner und kommunikativer.

Temporary Housing

Durch variabel in der Horizontalen oder Vertikalen miteinander verbundene Module ehemaliger Seefrachtcontainer entstehen individuelle Zwei- und Mehrraumlösungen. Design: Containerwerk & Friends, Stuttgart; Quelle/Fotograf: Stefan Hohloch

«Die Mobilität und die dazugehörige Infrastruktur werden in einer idealen Welt durch die Nachfrage gesteuert. Flexiblere Arbeitsmodelle reduzieren den Verkehr, durch den richtigen Mix werden die einzelnen Mobilitätsangebote optimal ausgelastet. Freie Räume entstehen, die umgenutzt werden können, um auf diese Weise die Lebensqualität zu steigern», skizziert Jana Lév ein mögliches Szenario. Letztlich sind wir gefragt, in diesem Sinne aktiv und kreativ zu denken, die Schranken im Kopf abzubauen und Standards hinter uns zu lassen, nicht nur aber gerade auch im Wohnbau.

In seinem Beitrag «Figures, Doors and Passages» beschreibt der Architekt und Autor Robin Evans in der Analyse der von Raffael und Sangallo 1518–1528 entworfenen Villa Madama in Rom deren räumliche Disposition als abwechslungsreiche Folge von unterschiedlichsten Raumsequenzen ohne hierarchische Zuordnung und ohne Vorgabe für eine mögliche Benutzung. Liest man den Grundriss der Villa Madama als städtischen Raum, könnte man Raffaels Entwurf als eine Antwort auf die Fragen räumlicher Konditionierungen im 21. Jahrhundert verstehen. Das Angebot an Raum ist da, wie wir es belegen, müssen wir entscheiden.

Fotografie: Mini, Stefan Hohloch