Grün ist das neue Grau

Dominierte in den Nullerjahren noch die Farbe Weiss, folgte im Jahrzehnt darauf die Farbe Grau. Nun weicht diese dem Grün. Wohin man blickt; alles ist Grün. Wir essen Grün, sitzen auf Grün und umgeben uns von in Grün getünchten Räumen mit grünen Pflanzen. Es scheint, als seien wir ganz vernarrt in die Farbe, selbst Verpackungen sind grün. Der Trend «Slow Design» führte Grün in unser Leben ein und der Star unter den neuen Farben ist das Salbeigrün. Zeit, diesem Farbtrend auf den Grund zu gehen.

«Designkultur» – oder die neue Art des Entschleunigens

Über Design nehmen wir am einfachsten und schnellsten die gesellschaftlichen Veränderungen wahr. Jedes Jahrzehnt hat seine typischen Merkmale, die sich in bevorzugten Farben, Formen, Materialien oder Objekten äussern und damit ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung sind. Durch dieses kollektive Vokabular verfügen wir über ein grosses, unbewusstes Repertoire und Wissen darüber, welche Farben, Formen, Materialien, aber auch welches Essen, welche Fashion oder welches Design zu welchem Jahrzehnt gehören. In den Nullerjahren war der iPod mit seinen weissen Kopfhörerkabeln das Symbol einer neuen Generation, Weiss dominierte. Möglichst klein, reduziert, modern, monochrom und sphärisch, beinahe klinisch: Angesagt war, was sich in weissen Räumen und auf glänzenden Oberflächen spiegelte. Lange Zeit waren «Globalisierung und Digitalisierung» die grosse Sehnsucht und das Nonplusultra in unserer Gesellschaft. Das Zeitalter des Minimalismus bestimmte die Nullerjahre und Apple eroberte die Welt.

Grau – der Diplomat unter den Farben

In den 10er-Jahren fand dann ein Umdenken statt. Nicht «schneller ist besser» oder das Nacheifern von Jugendlichkeit stand im Vordergrund, sondern das Erwachsenwerden. Und damit tauchte die Faszination für das Alter auf. Wir ergrauten und so kam es, dass graue Haare zu einem Trend wurden. Die junge Praktikanten-Generation setzte diese Haarfarbe für ein selbstbewusstes Statement ein, mit dem sie sich als seriös und weise etablieren wollte. Die US-Fashionbloggerin Tavi Gevinson war eine der ersten, die diesen «Granny Hair» Look lancierte und sich mit 14 Jahren ihre Haare silbergrau färbte. Musikstars wie Rihanna und Lady Gaga zogen nach und bald trugen junge Frauen die Haarfarbe Grau. Zwar schieden sich die Geister an diesem Trend, doch es wurde zu einem starken Symbol dieser Zeit. Die Farbe Grau stand bald nicht mehr für Langweile oder einen grauen Alltag. Grau tauchte nun überall auf und spiegelte den neuen Trend unserer digitalen High-Tech-Zeit. Nach der intensiven und unruhigen Zeit, in der eine Wirtschafts- und Finanzkrise auf die andere folgte und die Globalisierung unkontrollierbar wurde, brauchten wir neue Sicherheit und Würde. Wir sahen alles nicht mehr nur schwarz-weiss, sondern differenzierter. Und welche Farbe konnte dies besser vermitteln als eine, die selbst gänzlich neutral und seriös war, wie Grau? Grau, der Diplomat unter den Farben. Ihre Nuancen-Vielfalt von Silbergrau, Schiefergrau, Rauchgrau, Betongrau, Anthrazit berauschte auch die Designer und Architekten. Sie passte sich an jede Stimmung, jede Einrichtung und jedes Outfit an.

Grün ist das neue Grau

Doch in der digitalvernetzten Welt sehnen wir uns immer mehr nach entschleunigter Zeit und innerem Frieden. Neue Wege werden gesucht, die sich darin äussern, die Natur in die eigenen vier Wände zurückzuholen und diese als Erholungs- und Ruhepol mit vielen Pflanzen zu gestalten. Diese Trendentwicklung zeigt sich auch im tiefen Wunsch nach der analogen Gemeinschaft, dem «Wir»-Gefühl und den guten, alten, persönlichen Gesprächen. Doch wollen wir diese nicht mehr Zuhause führen, sondern draussen. In den neuen Hotelkonzepten von New York bis Paris macht sich diese Entwicklung deutlich bemerkbar. Deren Lobbys werden zum neuen Treffpunkt, auch für Nicht-Hotelgäste. Ebenso werden Co-Working-Spaces zum neuen Dreh- und Angelpunkt der jungen digitalen Generation. Das sind ihre neuen Wohnzimmer und Ruheoasen. Farne, Gummibäume und Monstera breiten sich in allen Formen und Grössen aus. Sie stellen die Basis für den neuen Trend der grünen Oasen – dem «Urban Jungle» dar. Im Interior-Bereich entfaltet die Farbe ihr volles Potenzial, wenn sie mit Naturmaterial wie Holz, Kork, Messing oder Rattan kombiniert oder mit Webteppichen aus natürlicher Wolle ergänzt wird. Mit unserem zunehmenden Bedürfnis nach Natur und Entschleunigung wird Indoor zum neuen Outdoor, und das sorgt mit der Farbe Grün für einen reduzierten Stresslevel und einem Kontrast zur Sofortness.

Salbeigrün – die neue Trendfarbe

Neu schenken wir Salbeigrün unsere volle Aufmerksamkeit. Nicht nur auf dem Laufsteg ist Salbeigrün der grosse Star unter den Farben. Viele Designobjekte werden in das monochrome Grün eingetaucht, die dadurch zu einem Must-Have avancieren. Von der Lampe über den Stuhl bis zur Lederhandtasche wird alles Salbeigrün gefärbt, sogar Küchen- und Badeaccessoires sind grün. Gegenstände erhalten zugleich etwas Skulpturales und Erhabenes und wirken dadurch absurd und modern. Als Wandfarbe verwandelt Salbeigrün die Räume in eine Oase der Erholung und löst bei uns eine sanfte Gelassenheit aus. Salbei als Farbe oder Pflanze wirkt ausgleichend, beruhigend und heilsam nicht nur bei einer Erkältung, sondern auch für unsere Gesellschaft. Sie steht für Entspannung, Hoffnung und Zufriedenheit und fördert dabei nachweislich auch unsere Konzentration. Deswegen setzt die neue Generation von Innenarchitekten sie nun vermehrt für die Gestaltung von Lobbys-, Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmern ein. Dadurch trägt sie merklich zur Entschleunigung unserer Gesellschaft bei.

Das Jugendstil-Grün ist zurück

Salbeigrün war schon die Lieblingsfarbe des Jugendstils und erlebte ihre Blütezeit an der Wende zum letzten Jahrhundert. Als Protest und Gegenbewegung zur seelenlosen Industrialisierung und Massenproduktion jener Zeit nahmen die Künstler des Jugendstils die Natur zum Vorbild und Stilmittel. Sie stilisierten florale Formen und Ornamente in Architektur, Kunst, Design und Kleidung. So wie sich die Gesellschaft an der Wende zum letzten Jahrhundert stark durch die Industrialisierung veränderte, erleben wir auch heute einen ähnlichen Wandel, der uns von der analogen Welt zur digitalen und globalen Welt führt. So wie Grün die Farbe des Jugendstils war, dessen Umbruch und Zurückbesinnung zur Natur eine Reaktion auf die Industrialisierung war, besinnen wir uns auch heute infolge der Digitalisierung zurück auf die Natur. Vielleicht fasziniert uns Salbeigrün deswegen zurzeit so sehr. Lassen auch Sie sich von der Salbeifarbe faszinieren, und entspannen Sie sich mit einer Tasse Salbeitee vor einer salbeigrünen Wand.

Fotografie: Hay, Design+Design, Tilia
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