«Slow Living» – Die Poesie der Einfachheit

Trends werden nicht von selbsternannten «Gurus» oder anonymen Institutionen entwickelt, sondern widerspiegeln die Sehnsüchte der jeweiligen Zeit. Sie verändern sich entsprechend unserer gesellschaftlichen Entwicklungen. An sozialen Strömungen und weltpolitischen Ereignissen lassen sie sich beobachten, über längere Zeit erforschen und als Bedürfnisse der jeweiligen Konsumgenerationen sichtbar machen. Aktuellstes Beispiel: «Slow Living». Die Millennials geben dabei den Takt zur Entschleunigung vor, was sich auch in der Materialisierung von Räumen und Produkten ausdrückt.

Weniger, aber besser

Der «Slow Living» Trend spiegelt den neuen Zeitgeist nach Entschleunigung, einem bewussteren Leben und dem Besinnen auf die wichtigen Dinge wider. Qualität statt Quantität heisst das Mantra. Unser Leben wird mittlerweile oft als hektisch und vollgepackt mit vielen Eindrücken und noch mehr Arbeit wahrgenommen. Dabei vergessen wir häufig, dass wir nur das eine Leben haben und es wichtig ist, uns Zeit zu nehmen, um es zu geniessen. Es ist kein Geheimnis, dass sich unsere Gesellschaft nach Entschleunigung sehnt. Dass es allerdings auch immer mehr zu einem Thema von gesellschaftlicher Relevanz wird, zeigt das Phänomen der Millennials, bei der das bewusste Geniessen, weniger arbeiten und dafür mehr Zeit für Entschleunigung im Zentrum steht.

Kop Keramik Becher von Designerin Akiko Oue mit Griffen wie Türdrücker. Produktion Takuya Yamamoto 2014. Foto Akiko Oue.

Vertrauen in die Intuition – die Generation Z

Die Millennials sind die erste Generation, die von Geburt an mit den neuen digitalen Medien aufgewachsen ist. Obwohl für sie Hightech Alltag ist, verfolgt sie die Digitalisierung und Technisierung unserer Welt durchaus auch kritisch. Gerade die Generation Z, also die nach 1997 Geborenen, wollen aktiv verändern, denn sie betrachten die globalen Entwicklungen wie die Urbanisierung, die Umweltprobleme und den Klimawandel, sehr kritisch. Ihnen ist das Sammeln von Erfahrungen und Erlebnissen wichtiger als Konsum und Besitz. Deshalb interessieren sie sich stark für Designprozesse und Manufakturen. Diese Generation Z legt grossen Wert auf Nachhaltigkeit, Transparenz und Sinnhaftigkeit und schätzt Authentizität – so wie auch die Millennials. Für diese Generationen stehen ehrliches Storytelling und das Erzeugnis im Vordergrund. Beide wollen wissen wie, wo und unter welchen Bedingungen die Produkte hergestellt werden und welche Inhaltstoffe sich darin befinden. Damit stellen sie alles Bisherige – von der Produktion bis hin zum Retail – auf den Kopf und werden das zukünftige Konsumverhalten sowie die Arbeitswelt verändern. Diese Generationen arbeiten wie selbstverständlich interdisziplinär und kombinieren spielend High- und Lowtech. Sie zeigen so neue zukünftige Perspektiven für unserer Gesellschaft auf und werden Berufe ausüben, die es heute noch gar nicht gibt. Dabei werden sich viele Jobs um die Verbesserung und Erhaltung der Umwelt drehen. Durch sie werden in Zukunft immer mehr personifizierte Produkte und Konzepte «mit Seele» entstehen. Nachhaltigkeit zeigt den Lösungsansatz, und es gilt der Grundsatz: «Weniger, aber besser». Bedenkt man, dass die Generation Z in den nächsten sechs Jahren zur weltweit grössten und kaufkräftigsten Konsumentengruppe zählen wird, kann man davon ausgehen, dass sie unsere Welt revolutionieren wird.

Digitale Interiors und Möbel

Der Designer Andrés Reisinger gehört mit seinem Studio in Barcelona eindeutig zu dieser interdisziplinär denkenden Generation Z. Während er in Buenos Aires aufwuchs, lernte er bereits mit Materialien zu experimentieren und stellte mit seinen Grosseltern, die beide Handwerker waren, Spielzeug her. Sie lehrten ihn, was es bedeutet, etwas von Grund auf neu zu erschaffen. Diese Erfahrung zieht sich wie ein roter Faden durch seine Arbeit, die frei von Grenzen der physischen Welt, von Entwicklungs- und Produktionsdenken ist. Ein schönes Beispiel dafür ist sein voluminöser, blassrosafarbener, digitaler «Hortensia» Chair. Er sieht so real aus, dass man überlegen muss, aus welchem Material er besteht. Erst auf den zweiten Blick begreift man, dass es sich um einen digitalen Sessel handelt. Andrés Reisinger ist der perfekte Vertreter für die Generation Z, welche neue Visionen und neue Ansichten entwickelt und somit neue Berufe erfindet und neue Wege geht.

Digitales Projekt des multidisziplinären Designers Andrés Reisinger: Stuhl Hortensia 2018. Visualisierung Andrés Reisinger.

Slow materials – slow colours

Im Zuge der Entschleunigung entsteht die sogenannte «Slow» Bewegung, die ein neues Verständnis für das Design mitentwickelt. Im Zentrum stehen Naturmaterialien, kombiniert mit haptischen Qualitäten, die von der Generation Z bevorzugt wird. Dabei löst ihre Sehnsucht nach Beständigkeit auch die Suche nach unseren Wurzeln aus. Wir erleben u.a. durch die Generation Z die grosse Renaissance der Handmanufakturen und handgefertigten Produkte. Alte traditionelle Handwerkstechniken wie Teppichknüpfen, Keramikarbeiten oder Flechttechniken mit Papierschnur sind wieder angesagt. Ebenso halten beinahe in Vergessenheit geratene Materialien, wie Bachsteine, Lehm, Flachs, Leinen, naturbelassenes Holz und Metalle wie Kupfer und Gold, Einzug in unseren Alltag. Auch Marmor, der schon längere Zeit Favorit der jungen Design- und Architektenszene ist, verbreitet sich weiter in alle Disziplinen und Industrien. Andere Steine bekommen ebenfalls ihren neuen Auftritt. Terrazzo in verschiedenen weissen, cremefarbenen und braunen Farbnuancen, wird von der jungen Designgeneration wiederentdeckt. Der skulpturale «Gallipoli» Armchair aus hellem Travertin von Stéphane Parmentier ist ein Vertreter dieser «Steingeneration». Sein beruflicher Werdegang ist typisch für Generation Z: Er begann in der Modebranche unter anderem bei Lanvin, Hervé Léger und Karl Lagerfeld und wechselte dann zur Inneneinrichtung. Ein weiteres Merkmal dieser neuen Designsprache ist die Suche nach neuen Volumen und reduzierten Formen. Begleitet von einer neuen Farbpalette von «Slow Colours» aus monochromen natürlichen Farben wie Beige hin zu fast pudrigem Rosa und verschiedenen Steinfarben mit «Nude»-Nuancen. Sie entschleunigen unsere Gesellschaft sowohl in der realen wie auch in der digitalen Welt. So gefällt uns plötzlich auch ein Sessel in Rosé.

Gallipoli Sessel by Stéphane Parmentier für die Ormond Edition Puglia Collection. Sessel mit Travertin und Lammfellkissen. Foto Ormond Edition.

Slow architecture – slow design

Eine starke Vision dieser neuen Welten spiegelt beispielsweise der Projektentwurf vom Bostoner Architekturbüro «Matter Design» für den Wettbewerb des Guggenheim Museums in Helsinki wider. Es stellt einen Innenraum her, wie man ihn so noch nie gesehen hat. Der Raum in Holz und Stein ist puristisch, sakral, skulptural und doch sehr warm. Das Architekturbüro Matter Design sieht seine Arbeit wie ein Forschungslabor und arbeitet interdisziplinär unter anderem mit Komponisten, Historikern, Künstlern, Industriepartnern und weiteren kreativen Köpfen zusammen. Seine Projekte sind eine hybride Synthese aus Kunst und Wissenschaft. Ein weiteres schönes Beispiel dieser neuen interdisziplinären Arbeitsweise sind die Objekte des in Los Angeles ansässigen Design-Ateliers de Troupe, das Gabriel Abraham 2011 gegründet hat. Der ehemalige Zeichner, Bühnenbildner und Produktionsdesigner entwirft und produziert eine Reihe einzigartiger, skulpturaler und zeitgenössischer Möbel, ganz im Sinne der «Slow Design». Als Beispiele dafür steht der minimalistische und doch opulent wirkende Jia Tisch aus massivem Eichenholz und Travertin oder die messingfarbene Kyoto Wandleuchten in Sandguss. Seine limitierten Kollektionen werden vom Konzept bis zur Fertigstellung zusammen mit einem lokalen Handwerkerteam umgesetzt. Seine Objekte sind pure Reduktion auf das Schöne und Wesentliche und ganz in der neuen Formen- und Materialsprache gehalten.

Links Guggenheim Helsinki Cultural Center: Social Aeration by Matter Design. Visualisierung by Matter Design 2014. Rechts Tisch Jia mit massiven Holzelementen und einer Marmorplatte von Atelier de Troupe in Los Angeles (Foto Atelier de Troupe) + Leuchte Kyoto Messinggussstück mit gussroher Oberfläche von Atelier de Troupe in Los Angeles. Jede Gussform wird individuell von Hand in den Gusssand eingearbeitet (Foto Atelier de Troupe).

All diese natürlichen Materialien und neuen Visionen der Generation Z bringen uns wieder näher zu uns zurück und rücken das Wesentliche – den Menschen – ins Zentrum. Es erstaunt also nicht, dass sich die «Slow» Bewegung in andere Bereiche überträgt und unter anderem als Slow Living, Slow Design, Slow Fashion, Slow Food, Slow Media, Slow Architecture etc. akzentuiert. Mittlerweile fordert die «Slow Education» das Recht auf Langeweile, denn nur so können neue Ideen entstehen. Das Wort «Slow» bedeutet dabei nicht nur langsam, es ist auch ein Initialwort, das sich aus den englischen Begriffen S – Sustainable, L – Local, O – Organic, W – Whole zusammensetzt. Und die Generation Z wird die Bewegung anführen, prägen und formen.