RAINER BRENNER • 14.02.2019
Zu Gast im Kapuziner-Kloster Wesemlin

«Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft»

Als Kapuziner teilt Bruder Damian Leben und Besitz mit seinen Mitbrüdern. Warum dieser Lebensstil dennoch wenig mit Verzicht zu tun hat, erklärt er uns beim Besuch im Luzerner Kloster Wesemlin.

Bruder Damian empfängt uns in brauner, bodenlanger Kutte direkt neben dem Kreuzgang. «Die trage ich nur für euch», erklärt er in breitem Ostschweizer Dialekt und führt uns durch die kalten Gänge des Stadtklosters. «Im Alltag tragen die meisten von uns keine Kutte, die ist ziemlich unpraktisch und schon längst nicht mehr Pflicht. Ich verstehe sie mehr als eine Art Tracht.»

Damian Keller trat Mitte der Achtziger-Jahre im Alter von 21 Jahren in die Bruderschaft ein. «Ich verbrachte die Oberstufe in einem von Kapuzinern geführten Internat und hatte einen Onkel, der der Bruderschaft angehörte. Dieses Leben war also nicht völlig fremd für mich». Bereits während des Gymnasiums fing Damian an, sich für das Leben des Franz von Assisi zu interessieren. «Mir gefiel diese Radikalität, mit der Franziskus für die Menschen einstand. Entsprechend angetan war ich vom Engagement der Kapuziner im Dienst der Menschen.» Während und nach seiner Ausbildungszeit und seinem Theologiestudium lebte er in verschiedenen Klöstern und arbeitete in unterschiedlichen sozialen Institutionen in und ausserhalb der Schweiz – unter anderem auch in Kalifornien.

Geteiltes Leben, geteiltes Geld

Gegründet wurde das Kloster Wesemlin 1584 dank einer Schenkung des Ratsherrn Kaspar Pfyffer. In den folgenden Jahrhunderten wurde das Gebäude immer wieder erweitert. 1730 erhielt das Gebäude zudem eine neue Bibliothek, deren Werke bis heute erhalten geblieben sind und zu den kostbarsten Schätzen der ansonsten auf Schenkungen angewiesenen Kapuzinern gehört. Die Haupteinnahmequelle der Bruderschaft ist heute nebst Spenden und Vergütungen für Gottesdienste das Kloster selbst – einen Teil des Klosters haben die Kapuziner an eine Ärztegemeinschaft vermietet.

Das Geld reicht für die bescheidenen Lebenskosten der 15 Wesemliner Kapuziner. «Wir sind eine Kommune – oder eher eine Art Schicksalsgemeinschaft. Niemand von uns verfügt über viel privaten Raum oder Hab und Gut. Was der Einzelne verdient, kommt allen zugute.» Einen Verzicht sieht Bruder Damian in seiner Lebensweise aber kaum. «Ich kenne nichts anderes und brauche nicht mehr zum Leben. Für andere Brüder, die eher später in den Orden eingetreten sind und sich zuvor an einen ganz anderen Lebensstil gewöhnt haben, mag das etwas schwieriger sein.»

Unverzichtbare Privatsphäre

Im Kloster Wesemlin verfügt jeder Bruder über ein kleines Schlafzimmer mit Dusche und WC sowie einen eigenen Arbeitsraum. «Die eigenen vier Wände als Rückzugsort zu haben, das ist unverzichtbar» – sein Schlafzimmer als Minimum an Privatsphäre möchte Bruder Damian daher weder mit uns noch mit anderen Menschen teilen.

Der Tag im Kloster Wesemlin beginnt morgens um sieben Uhr mit dem gemeinsamen Beten und Meditieren. Danach geht jeder seiner eigenen Arbeit nach – manche arbeiten an sozialen Projekten, andere bereiten ihre pastoralen Dienste vor.

Klosterleben und Krimis

Der Tag im Kloster Wesemlin beginnt morgens um sieben Uhr mit dem gemeinsamen Beten und Meditieren. Danach geht jeder seiner eigenen Arbeit nach – manche arbeiten an sozialen Projekten, andere bereiten ihre pastoralen Dienste vor. Bruder Damian ist als Guardian sozusagen der Klostermeister: «Die meiste Zeit verbringe ich vor dem Computer oder in Meetings. Ich koordiniere und organisiere alles rund um das Kloster Wesemlin» Bruder Damians Büro unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht allzu sehr von anderen Arbeitsplätzen: Auf dem Tisch stehen Bildschirm, Computer und Laptop, daneben liegen verschiedene Akten, Handy, Ordner – und zwei Netflix-Gutscheine. «Ich bin ein sehr grosser Fan von spannenden Serien!», gibt Damian zu. «Bei mir vergeht kaum ein Abend, an dem ich nicht 1-2 Folgen einer Serie schaue oder einen Krimi lese. Am liebsten mag ich nordische und deutsche Autoren.»

«Nach dem Abendessen gestaltet meist jeder seinen Abend selbst». Von sozialer Kontrolle hält Bruder Damian wenig. «Wir sind alle erwachsene Menschen. Jeder muss letztlich selber beurteilen, welche Verbindlichkeiten er gegenüber der Gemeinschaft eingehen will.» Dennoch sind auch die Brüder vor Konflikten (streiten tun sie eigentlich nicht) natürlich nicht gefeit. Wie in jeder Gemeinschaft kommt es auch im Kloster manchmal zu Differenzen: «Mit manchen Brüdern kommt man besser aus als mit anderen. Und in vielerlei Hinsicht teilen wir auch sehr unterschiedliche Ansichten zu gewissen Themen.» Wenn das Zusammenleben allerdings gar nicht klappt oder man sich beruflich oder privat nach einem neuen Umfeld sehnt, haben die Kapuziner auch die Möglichkeit, in ein anderes Kloster zu wechseln. Im Gegensatz zu Mönchen sind Kapuziner-Brüder nicht an ein einzelnes Kloster gebunden, sondern Teil einer gesamtschweizerischen und international eingebundenen Bruderschaft.

«Wir sind alle erwachsene Menschen. Jeder muss letztlich selber beurteilen, welche Verbindlichkeiten er gegenüber der Gemeinschaft eingehen will.»

Der Zeit voraus

Dass es sich um einen reinen Männerhaushalt handelt, wird vor allem an den Kleinigkeiten deutlich. «Bei der Einrichtung fehlt uns zum Teil vielleicht ein bisschen das Händchen für Details, dafür sind wir auch frei von irgendwelchem Schnickschnack», gesteht Bruder Damian. «Vieles ist sehr nüchtern und praktisch gehalten – was aber gerade bei den Umbauten auch seine Vorteile hat.» Der Gebetsraum wirkt beispielsweise modern reduziert und unerwartet frei von Symbolen. Auch im grossen Esszimmer oder in der Bibliothek trifft karge Ästhetik auf sanfte Renovation.

Und diese sanfte Renovation ist nicht nur baulich ein grosses Thema. Die grossen gemeinsamen Räume wie Esszimmer, Gebetsraum oder Küche zeugen von einer Zeit, in der hier noch viel mehr Brüder hausten. «Als ichEnde der Achtziger- und Anfang der Neunziger-Jahre zum ersten Mal hier gelebt habe, waren hier noch vierzig Brüder, jetzt sind es nicht mal mehr halb so viele», stellt der Guardian fest. Den Kapuzinern fehlt es an Nachwuchs. So liegt auch in diesem verhältnismässig jungen Kloster der Altersdurchschnitt bei über 60 Jahren.

«Wir sind ohne Frage eine Zeiterscheinung», rekapituliert Bruder Damian. «Mag sein, dass dem Orden irgendwann ganz die Mitglieder ausgehen.» Als altmodisch würde Damian das Kapuzinerleben dennoch nicht beschreiben. Im Gegenteil: «In vielen Belangen leben wir den Trends auch voraus. Themen wie Nachhaltigkeit, ressourcenoptimiertes Leben, soziale Arbeit, Mehrgenerationenhaushalt und dergleichen werden bei uns mitunter seit Jahrhunderten gelebt statt diskutiert. Car-Sharing wird bei uns bereits seit vielen Jahrzehnten vor Mobility praktiziert.»

«In vielen Belangen leben wir den Trends auch voraus. Themen wie Nachhaltigkeit, ressourcenoptimiertes Leben, soziale Arbeit, Mehrgenerationenhaushalt und dergleichen werden bei uns mitunter seit Jahrhunderten gelebt statt diskutiert. Car-Sharing wird bei uns bereits seit vielen Jahrzehnten vor Mobility praktiziert.»

Gemeinsamkeit zählt

Nach knapp zwei Stunden Gespräch wird klar: Auch Bruder Damian schläft gerne mal aus. Auch Kapuziner brauchen ab und zu Tapetenwechsel und Ferien – im Falle von Bruder Damian am liebsten auf einer Alp in Liechtenstein. Auch Kapuziner können eine Apple Watch tragen. Und auch Bruder Damian regt sich zuweilen über Kleinigkeiten auf – zum Beispiel über den bevormundenden Klang der Essensglocke, die in diesem Moment ein wohlriechendes Rahmgeschnetzeltes ankündet.Wo Individualismus endet und Luxus beginnt, wird hier im Kloster immer wieder neu verhandelt. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Orten definiert man sich hier nicht über die Unterschiede, sondern über Gemeinsamkeiten.

Fotografie: Anne Morgenstern