Rainer Brenner • 27.11.2018
Besuch in der Berner Hausgemeinschaft füfefüfzg

«Wir verdrängen das Älterwerden nicht, setzen es aber auch nicht an erste Stelle.»

Wie Wohnen im Alter?
Das Kollektiv füfefüfzg hat sich dieser Frage früh angenommen – und lebt in seiner Berner Hausgemeinschaft der Zeit voraus.

Kulturinstitutionen, Szene-Cafés und lebendige Hinterhöfe: Das bunte Berner Lorraine-Quartier beherbergt so manche Oase. Eine davon eröffnet sich uns hinter einem weissen Zaun, wo Peter, Marcelle und Therese uns gutgelaunt empfangen. «füfefüfzg.ch» steht in grossen Lettern auf einem blauen Schild, das wie eine Flagge über dem Hauseingang hängt. «Auf die Idee, gemeinsam ein Haus zu beziehen kamen wir Mitte der Neunzigerjahre», erinnert sich Marcelle – mit 84 Jahren die zweitälteste Hausbewohnerin.

Ab 55 Jahren sind die Kinder aus dem Haus und die Pension rückt langsam ins Blickfeld: Der ideale Zeitpunkt, um sich Gedanken über den kommenden Lebensabschnitt zu machen. So kam der Name füfefüfzg zustande. Die drei Gründungsparteien hatten sich auf gemeinsamen Skitouren kennengelernt und waren allesamt bereit, ihre gemütlichen Eigenheime gegen ein gemeinsames Wohnexperiment einzutauschen. Das vierstöckige Haus am Schulweg bot die perfekte Ausgangslage dazu, die Architekten Urs und Sonja entwickelten darin ein bauliches Konzept, das die soziale Idee unterstützen sollte. 2001 sind schliesslich die Ersten hier eingezogen, weitere Mitbewohner hat man per Inserat gefunden.

Auf alles vorbereitet

Mittlerweile leben hier zwölf Menschen zwischen 73 und 87 Jahren. Sämtliche Zugänge sind barrierefrei konzipiert und auf allen vier Stockwerken finden sich Wohneinheiten, die sowohl als Einzelwohnungen oder als grosse Pärchen- oder WG-Wohnung bewohnt werden können. Marcelle war beispielsweise bereits verwitwet, als sie eingezogen ist. Bis vor einem halben Jahr hat sie sich ihre Wohnung mit einer Kollegin geteilt. Mittlerweile sind die Wohnungen durch eine Wand getrennt, die beiden leben aber immer noch Tür an Tür auf demselben Stock. Somit ist das Haus auf fast jede Veränderung vorbereitet.

Neun der elf Einheiten sind Eigentum der Bewohner, zwei Einheiten werden zur Miete bewohnt – zum Beispiel von Therese. Doch dieser Unterscheid spielt hier keine Rolle: «Wir wollen eine Gemeinschaft sein, das ist die Basis unseres Zusammenlebens. Darum sind alle, die hier leben, daran interessiert, sich nicht abzuschotten und den Kontakt zu den anderen Bewohnern zu pflegen.»

Willkommen im Chaos

Der Gemeinschaftsraum namens «Chaos» ist das Herzstück der Gemeinschaft und bildet zugleich die Schnittstelle zwischen Bewohnern und Öffentlichkeit. «Der Begriff Chaos steht für Neubeginn, das schien uns passend», erklärt Marcelle. Der Raum liegt auf der anderen Seite des geräumigen Gärtchens in einem ehemaligen, kleinen Bürogebäude.

Hier kommt man regelmässig zusammen, redet, feiert, diskutiert – und streitet auch mal. «Gerade am Anfang musste man sich natürlich aneinander gewöhnen. Das bedeutet, dass man auch akzeptieren musste, dass nicht alles so läuft, wie man das gewohnt ist», erinnert sich Peter. «Mittlerweile ist’s aber schon recht eingespielt. Klar gibt’s manchmal sture oder rote Köpfe, vor allem bei Investitionsfragen. Aber schlussendlich kriegen wir es immer auf die Reihe und finden nach jedem Streit wieder zusammen.»

Auch wenn in den letzten Jahren immer mehr Alterswohngemeinschaften entstanden sind, sei diese Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens kein Modell für die breite Allgemeinheit, davon ist Therese überzeugt: «Man muss der Typ dazu sein, gemeinschaftlich zusammenleben zu können und zu wollen. Und vielleicht auch eine gewisse Offenheit mitbringen.»

Privatsphäre trifft Glastüren

Dieser Gedanke drückt sich beispielsweise in den gläsernen Wohnungstüren im Haupthaus aus: Wer die Jalousien hochgezogen hat, gibt den Blick frei auf seine Stube und lädt andere Bewohner zum Anklopfen ein. «Die Grundidee der Architekten ist es, mit den baulichen Voraussetzungen perfekte Voraussetzung für Kontakt zu schaffen und dennoch genügend Freiraum für Privatsphäre zu lassen», erklärt der 73-jährige Peter als er uns durchs bunte Treppenhaus führt und die anderen Hausbewohner vorstellt.

Jede Wohnung, die wir betreten, sieht anders aus und lässt trotz der eher bescheidenen Platzverhältnisse viel Spielraum für Individuelles: Beim Architektenpaar Sonja und Urs im ersten Stock findet sich viel Kunst und eine freistehende Badewanne neben der Küche. Peters Wohnung im zweiten Stock wirkt heimelig, das Rennrad vor der Wohnungstür verrät, dass er mit seinen 73 Jahren sozusagen der Jungspund im Hause ist. «Das Thema des Älterwerdens interessierte mich damals eigentlich noch gar nicht. Erst durch das Zusammenleben mit den anderen Bewohnern fing ich an, mich vermehrt mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Ich gab Kurse zum Thema Pensionierung und bin mittlerweile fast sowas wie ein Spezialist geworden.» Seine Nachbarin Therese, 76, lebt sozusagen ein Doppelleben: Im Tessin besitzt sie ein Haus, in dem sie einige Monate pro Jahr ziemlich abgeschieden verbringt. Hier in Bern lebt sie als Mieterin in Peters Nachbarwohnung ein Stadtleben in der Nähe ihres Sohnes und seiner Familie. Marcelle im obersten Stock hat zwar den schönsten Ausblick, wäre aber manchmal lieber etwas weiter unten, wo man sich im Treppenhaus trifft und unterhält.

Nach uns etwas Neues

Auch wenn die meisten Bewohner noch sehr agil sind und den Grossteil des Tages unterwegs sind, habe es in den letzten Jahren etwas zu «brösmele» begonnen, findet Marcelle. Sie selbst geht am Stock, ein anderer Mitbewohner ist an Parkinson erkrankt. 2008 verstarb erstmals ein Mitbewohner.«Das Alter nimmt langsam Zugriff auf uns. Aber das macht uns keine Angst, denn wir setzen uns offen damit auseinander. Über Themen wie Vorsorge, Palliative Care oder auch Exit wird hier offen gesprochen. Wir verdrängen das Älterwerden nicht, setzen es aber auch nicht an erste Stelle», so Marcelle.

Das Projekt als Alterswohnraum weiterzuführen ist allerdings nicht das Ziel von füfefüfzg. «Das Projekt endet eigentlich mit unserer jetzigen Gemeinschaft», erklärt Peter. «Sollte jemand ausziehen oder sterben, wird hier das Eigentum vererbt und es ziehen neue, wahrscheinlich jüngere Menschen ein. Das bedeutet aber nicht, dass nach uns die Sintflut kommt – sondern ganz einfach etwas Neues.»

Fotografie: Anne Morgenstern