Digital Detox –
Heilsbringer oder Symptom­bekämpfung?







Nachhaltig Leben
Nicole Gutschalk • 19.12.2018

Wir sind permanent online – beim Chatten, Twittern, Mailen, Liken, Scrollen oder Posten. Doch viele von uns fühlen sich von der digitalen Dimension in ihrem Leben überfordert. Kann Digital Detox Abhilfe schaffen? Oder betreiben wir damit nur Symptombekämpfung?

Wir tun es im Bett, beim Aufstehen und Einschlafen, im Bus und in der Tram, beim Warten im Restaurant, an der Supermarktkasse, am Esstisch, im Büro sowie in der Kaffeepause – ja selbst auf der Toilette: Aufs Smartphone starren. Laut Studien tun wir dies rund 88 Mal täglich – so viele Male wird unser Handy nämlich durchschnittlich an einem Tag entsperrt. Wenn wir davon ausgehen, dass wir rund acht Stunden mit Schlafen verbringen, lassen wir uns summa summarum also alle zwölf Minuten von unserem mobilen Bildschirm in den Bann ziehen. Sei es nur, um kurz die Uhrzeit zu checken. Meist aber, um ein paar Posts bei Instagram zu liken, eben mal bei unseren Facebook-Freunden vorbeizuschauen, Tweeds in die Welt zu zwitschern oder E-Mails und Chatnachrichten zu lesen – die wir bestenfalls auch gleich beantworten. Untersuchungen zu unserem digitalen Verhalten haben ergeben, dass wir rund 2600 Tätigkeiten pro Tag an unseren Smartphones ausführen. Wer es aber ganz genau wissen will, kann beispielsweise das von Apple entwickelte Update iOS12 zu Rate ziehen. Es misst nämlich auf die Minute genau unsere Bildschirmzeit. Aber auch bestimmte Apps, wie Instagram, enthalten bereits Angaben zur Dauer ihrer Verwendung.

Sind wir also mittlerweile allesamt zu asozialen Digital-Junkies verkommen?

Vielleicht sollten wir nicht ganz so hart mit uns ins Gericht gehen. Denn schliesslich hat sich in den vergangenen Jahren so einiges getan. Beispielsweise sind unsere Smartphones unglaublich smart geworden. So smart gar, dass wir mit ihnen Musik hören, fotografieren, Zugtickets kaufen, Flüge buchen, unsere Supermarkteinkäufe bezahlen, Sitzungen planen und Filme gucken. Alles Dinge, die wir ohnehin getan hätten, wenn auch mit mehreren Geräten.

Aber dennoch: Das Verlangen nach Ruhe, nach digitaler Funkstille ist enorm und trägt den Namen Digital Detox.

Die digitale Entgiftung soll für uns alle heilsam sein. Soll unsere Schlafstörungen verbannen, Stressgefühle verringern und uns kontaktfreudiger machen. Digital Detox soll uns wieder zu dem Menschen werden lassen, der wir vor der Ära Smartphone waren. Zu Menschen also, die ihre Umgebung wieder sinnlich wahrzunehmen vermögen. Die sich beim Nachtessen unter Freunden aufs Tischgespräch konzentrieren und nicht vom minütlichen Rattern, Blinken, Pfeifen und Summen unserer Handys ablenken lassen. Wie aber funktioniert so eine digitale Entgiftung überhaupt?

Die Möglichkeiten sind gigantisch. Gibt man nämlich den Suchbegriff Digital Detox bei Google ein, bekommt man rund 55 Millionen Einträge. Entgiften können wir uns beispielsweise, indem wir uns für eine Woche in ein Kloster einliefern lassen und unsere Smartphones beim Portier abgeben. Aber auch Luxushotels, Camps und Therapeuten aller Art scheinen Antworten darauf zu haben, wie wir uns von der Sucht mit den „Teufelsgeräten“ befreien und wieder naturverbundener und aufmerksamer werden können. Liest man allerdings die Erfahrungsberichte von Teilnehmenden, wird schnell klar, dass die Handy-Auszeit zwar eine ganz nette Sache zwar, dass sie ihr Verhalten nach der Entziehungs-Kur aber nicht massgeblich verändert hat.

Ist Digital Detox also kompletter Humbug?

Scheinen wir weiterhin dazu verdammt zu sein, als digitale Zombies durch die Welt zu gehen und uns unser Leben vom Smartphone klauen zu lassen? Hört man sich unter Experten um – von Neurowissenschaftlern, über Motivationspsychologen bis hin zu Psychotherapeuten und Kommunikationswissenschaftlern – so fällt die Antwort ziemlich einstimmig aus: Aufs Smartphone verzichten ist nicht die Lösung – dagegen müssen wir als Nutzer lernen, bewusst mit der neuen Technologie umzugehen. Oder wie es Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie kürzlich in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen formulierte: „Das Handy ist nicht das objektivierte Böse. Das Smartphone zu verteufeln, wäre so, als sagte ich: Essen macht dick, und ich höre mit dem Essen auf. Vielmehr müssen wir lernen, richtig zu essen.“ Aber wie ist das zu schaffen?

Die Antwort scheint banal, ist letztlich aber äusserst wirkungsvoll: Das Handy öfters mal weglegen. Punkt. Zumindest zu klar definierten Zeiten. Beispielsweise zur Schlafenszeit. Denn das blaue Bildschirm-Licht führt unter anderem dazu, dass die Freisetzung des „schläfrigen“ Hormons Melatonin gestört wird. Kurz: Wir schlafen schlecht. Wer sich also einen Wecker zulegt, wird künftig wieder zur wohligen Nachtruhe zurückfinden. Aber auch an anderen Orten in unserem Zuhause lassen sich hervorragend zum Handysperrgebiet erklären. Etwa der Esstisch. Denn mal ehrlich: Was gibt es Nervigeres als einen Tischnachbarn, der ständig auf sein Smartphone-Display schielt? Und welches Mail kann ernsthaft so wichtig sein, dass wir es beantworten müssen, während wir uns gleichzeitig Spaghetti reinschaufeln? Eben.

Hier noch ein paar weitere Tipps, mit denen wir vermeiden können, unnötig Zeit mit unserem Smartphone zu verbringen:

  • Eine Uhr kaufen. Oder unsere Mitmenschen nach der Uhrzeit fragen.
  • Handy während der Arbeitszeit in einer Schublade verschwinden lassen – frei nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn.
  • Push-Nachrichten ausschalten. Es macht mehr Sinn unsere Nachrichten zu bündeln und diese ein oder zwei Mal am Tag zu durchstöbern.
  • Handy bewusst zu Hause lassen. Etwa wenn wir Einkäufe erledigen oder uns mit Freunden im Restaurant treffen.
  • Sich ein Handwerk aneignen. Ob kochen, stricken, töpfern, schnitzen oder malen – je digitaler die Welt wird, umso stimulierender wirkt Handwerkliches. Versprochen.

Wer weiss, vielleicht gelingt es uns ja mit diesen simplen Tricks, uns selber auszutricksen und den praktischen Gebrauch unserer Smartphones so zu regulieren, dass er uns nicht unglücklich macht. Wir bleiben dran.

Fotografie: Manuel Nieberle