Die Arbeit ist da, wo wir sind






PERSPEKTIVEN
Giulia Bernardi • 04.12.2018

Unser Arbeitsalltag hat sich grundlegend verändert: Er spielt sich nicht mehr nur im Büro ab, sondern dezentralisiert, an mehreren Orten. Dies ist durch technologische Neuerungen, aber auch durch ökonomische und gesellschaftliche Einflüsse bedingt und erfordert ein Umdenken bestehender Strukturen.

Unsere Arbeitsweisen und -formen befinden sich im steten Wandel. Während man im Industriezeitalter noch einen bestimmten Ort aufsuchen musste, bringen heute neue Medien und Technologien die Arbeit dorthin, wo man sie gerade möchte: in den Zug, in die eigenen vier Wände oder in das Café nebenan.

Die Verlagerung des Arbeitsorts hängt aber nicht nur mit der fortschreitenden Digitalisierung zusammen, sondern auch mit ökonomischen und gesellschaftlichen Einflüssen. In der Schweiz sind rund 76 Prozent der Erwerbstätigen in der Dienstleistungsbranche oder in der öffentlichen Verwaltung tätig. Diese Bereiche begünstigen das mobile Arbeiten, ganz im Gegensatz zur ortsgebundenen Landwirtschaft oder Industrie. Des Weiteren spielen auch gesellschaftliche Trends eine Rolle. «Die fortdauernde Individualisierung, also der Wandel von Fremd- zu Selbstbestimmtheit, schlägt sich auch in dem Bedürfnis nieder, die eigenen Lebensentwürfe flexibel zu gestalten», meint Stefan Breit, Trendforscher am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI). «Dadurch verändern sich auch die Anforderungen an die Gestaltung des Arbeitsalltags.»

Stefan Breit
Trendforscher am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI)

«Die fortdauernde Individualisierung, also der Wandel von Fremd- zu Selbstbestimmtheit, schlägt sich auch in dem Bedürfnis nieder, die eigenen Lebensentwürfe flexibel zu gestalten.»

Laut der FlexWork Survey der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) sind 2016 rund 38 Prozent der Erwerbstätigen unabhängig von einem festen Arbeitsort ihrer Arbeit nachgegangen. Dabei haben 55,2 Prozent der Befragten angegeben, sich freiwillig dafür entschieden zu haben; als Gründe wurden Autonomie, Ungestörtheit und Zeitgewinne angegeben, aber auch das Bedürfnis den Arbeitsort der Aufgabe entsprechend anzupassen. «Gerade auch bei den jüngeren Generationen stellen wir ein Bedürfnis nach erhöhter Flexibilisierung fest», sagt Hartmut Schulze, Arbeits- und Organisationspsychologe an der FHNW. «Die Generation Y, also die Personen, die zwischen den 1980er- und den frühen 2000er-Jahre geboren wurden, denkt viel projektbezogener als ältere Generationen und arbeitet auch aus einer anderen Motivation heraus. Sie ist zum Beispiel dazu bereit, sich für ein Projekt intensiver zu engagieren, will danach aber die Gelegenheit für einen längeren Urlaub oder eine Reise haben.»

Flexible Arbeitsmodelle
und -räume

Die veränderten Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung erfordern ein entsprechendes Umdenken auf Arbeitgeberseite. Im Jahr 2016 gaben 56 Prozent der Erwerbstätigen an, nicht mobil arbeiten zu können, weil es das Aufgabengebiet oder das Unternehmen nicht erlaube oder die technologischen Mittel fehlten. «Bei denjenigen, die aufgrund der Arbeitgebenden nicht mobil arbeiten dürfen, beobachten wir eine Zurückhaltung auf Führungsebene», so Hartmut Schulze. «Das hängt oft mit der Befürchtung zusammen, keine Kontrolle mehr zu haben oder die Mitarbeitenden aus den Augen zu verlieren.» Entsprechend müssen neue Systeme zur Kommunikation und Leistungskontrolle etabliert werden. «Wir empfehlen den Unternehmen mit den Mitarbeitenden vermehrt über Bedürfnisse zu sprechen und gemeinsam Team-Chartas zu vereinbaren, in denen zum Beispiel Erreichbarkeiten im Home-Office oder gemeinsame Präsenzzeiten abgestimmt werden», fährt Schulze fort. Damit die Unternehmen besser einschätzen können, wo sie in Bezug auf mobile Arbeit stehen und inwieweit sie diese umsetzen möchten, hat die FHNW das FlexWork-Phasenmodell entwickelt. Damit können sich Arbeitgeberinnen und -geber in eine von fünf Phasen einordnen: von «ortsgebunden und stark hierarchisch» bis hin zu «ortsunabhängig und vernetzt». So bietet das Modell eine Orientierung zum Status quo, stellt die Unternehmen aber auch vor die Frage, welches Arbeitsmodell sie in Zukunft anstreben möchten.

Forschungs- und Innovationsunit Meet2Create im NEST, Fotos: ©Markus Käch

Doch flexible Arbeitszeiten und mobile Einsatzorte wirken sich nicht nur auf die Führung und Organisation aus. Forschungsprojekte wie Meet2Create des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern im NEST (Next Evolution in Sustainable Building Technologies) der Empa beschäftigen sich mit dem Entwurf zukunftsfähiger Arbeitswelten. Im Hinblick darauf, dass sich Arbeit dezentralisiert, wird das Büro mehr und mehr zu einem Ort für den gemeinschaftlichen, projektbezogenen Austausch. So entstehen auch neue Definitionen wie «Crea-Lab» oder «Co-Working». Es bedarf also an flexiblen Raumaufteilungen und Möbelsystemen, die an gemeinschaftliches oder individuelles Arbeiten angepasst werden können. Je nach Aufgabe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen auch Licht und Temperatur durch Sensoren entsprechend eingestellt werden können.

Coffices und
Co-Working-Spaces

Sofern denn mobil gearbeitet wird, wirkt sich auch die eigene Wohnungssituation auf den Ort aus, an dem man dies tut. Hier spielt der Trend des Microliving eine Rolle, der im Rahmen einer Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) analysiert wurde. Durch die geringer werdende Wohnfläche im urbanen Raum, steigt das Bedürfnis nach Ausgleichsfläche, was zur Folge hat, dass verschiedene Tätigkeiten, die im vergangenen Jahrhundert noch innerhalb der eigenen vier Wände ausgeführt wurden, nach draussen verlagert werden. So wird beispielsweise nicht mehr Daheim gearbeitet, sondern in Co-Working-Spaces oder Cafés, auch «Coffices» genannt. «Durch diese Verlagerung wird privater und öffentlicher Raum neu definiert, und es kommt es zu einer Co-Evolution zwischen Wohnung und städtischer Infrastruktur», meint Stefan Breit, worauf beispielsweise auch die vermehrte Etablierung von Co-Working-Spaces zurückzuführen sei.

Das Kosmos – ein Hybrid-Konzept in Zürich, Foto: ©Burkhard & Lüthi

Tagsüber ein Co-Working Space, abends ein Restaurant: das Milling Room in Manhattan, © The New York Times, Sam Hodgson

Ein komplexes
Zusammenspiel

Dass sich Arbeit zunehmend auf mehrere Orte verteilt, ist also durch verschiedene Einflüsse bedingt. Während die technologischen Neuerungen des 20. und 21. Jahrhunderts die Dezentralisierung erst ermöglicht haben, gewährleisten soziologische Trends, wie beispielsweise die Individualisierung, dass die neuen Entwicklungen in der Gesellschaft überhaupt Anklang finden. Dies verdeutlicht Stefan Breit mit einem politischen Beispiel, der Initiative zum bedingungslosen Grundeinkommen: «Wäre die Initiative angenommen worden, hätte der Begriff der Arbeit eine völlig neue Bedeutung erhalten: Man hätte seinen Beruf nicht nur den eigenen finanziellen Bedürfnissen angepasst, sondern vielmehr den individuellen Vorstellungen.»

Durch die veränderten Arbeitsbedingungen liegt es nun an den Unternehmen und an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gemeinsam neue Arbeitsmodelle zu entwickeln, die nicht mehr den Parametern des Industrie-, sondern denen des Digitalisierungszeitalters entsprechen.

«Durch diese Verlagerung wird privater und öffentlicher Raum neu definiert, und es kommt es zu einer Co-Evolution zwischen Wohnung und städtischer Infrastruktur»

Stefan Breit