Glas, die Poesie der Alchemie

Glasmachen ist eine fragile, aufwändige, aber auch eine mystische Angelegenheit. Vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb Glas zurzeit in der Designwelt so präsent ist. Dieses magische und altertümliche Material, das sich in jede erdenkliche Form verwandeln lässt, begeistert und verzaubert uns wie schon lange nicht mehr. Weltweit machen die Designer mit ihren Glasarbeiten eine Liebeserklärung an dieses magische Material.

Glas – das Symbol unserer Zeit

Kein Material fasziniert und berührt uns im Moment so wie Glas. Es ist widersprüchlich und birgt grosse Gegensätze in sich. Es ist zugleich unglaublich modern, zeitlos, stark und doch so zerbrechlich in einem. Es überdauerte die Zeit, die Epochen und die Generationen, doch nur ein Augenblick der Unachtsamkeit und es zerbricht in tausende einzelne Splitter, so fragil und kostbar wie das Leben. Vielleicht ist deswegen Glas mit seiner Vielschichtigkeit und seinen Gegensätze auch das neue Symbol unserer Zeit und unserer Gesellschaftsstrukturen.

Das Experimentieren mit der heissen, flüssigen Masse, das Verwerfen einer Idee und das Herausfordern des Materials benötigt viel Ruhe, Konzentration, Zeit und Erfahrung. Ein kostbares Gut, das selten in unserer Zeit geworden ist.

«Alchemie des Echten»

Die Faszination Neues und Unerwartetes aus Glas zu erschaffen, ist die Motivation vieler heutiger Jungdesigner, die sich diesem Material verschrieben haben. Dabei ist die fragile Transparenz nur ein Aspekt von Glas. Das Experimentieren mit der heissen, flüssigen Masse, das Verwerfen einer Idee und das Herausfordern des Materials benötigt viel Ruhe, Konzentration, Zeit und Erfahrung. Ein kostbares Gut, das selten in unserer Zeit geworden ist. Wahrscheinlich sind es auch die Echtheit und Ehrlichkeit des Materials, die uns so begeistern. Entsprechend der Slow-Bewegung mit ihren genussvollen, bewussten und regionalen Zielen passt Glas perfekt ins Konzept von Slow-Design. Die Themen Nachhaltigkeit, regionale Produktion, das Bewahren von handwerklichem Können und kulturellen Bezügen sind seit der Globalisierung für uns zentral geworden. Als Kontrast zur vorherrschenden Sofortness bringt Glas auch die neue Stille, Kraft und Poesie der Vergänglichkeit, Zerbrechlichkeit und Langsamkeit in unsere Gesellschaft zurück.

Ein wertvolles Gut in unserer High-Tech-Zeit

Die noch heute urtümliche und authentische Handwerksarbeit des Glasmachers berührt uns heute mehr denn je. Um aus der glühenden Glasmasse poetisch Lichtobjekte zum Leben zu erwecken, ist körperliche Schwerstarbeit und Geduld gefragt, was in der heutigen High-Tech-Zeit nicht mehr alttäglich ist. So unmittelbar modern die handgefertigten Glasobjekte auf den Betrachter wirken, so rudimentär ist das über Jahrhunderte gleich gebliebene Handwerk. Seine Werkzeuge scheinen, als ob sie aus einer anderen Zeit und aus einer mittelalterlichen Folterkammer stammen. Die spürbare Hitze des geräuschvoll dröhnenden und summenden Schmelzofens mit mehr als 1200°C verstärkt dieses Gefühl. Die kunstvolle Arbeit ist ein langwieriger Prozess von mehreren Schritten. In der traditionellen Glasmanufaktur arbeiten die Glasmacher meist zu zweit oder zu fünft. Mittels einer Glaspfeife, einem 1 bis 1,5 Meter langen Eisenrohr mit Mundstück und Holzhandgriff, wird einem glühend heissen Glasklumpen in wenigen Augenblicken mit Atemluft, Drehbewegung und durch Wälzen die Seele des Lebens eingehaucht. Die Glasobjekte erscheinen wie ein Wunderwerk der Alchemie. Die magische Schönheit von modernem Mund geblasenem Glas liegt vermutlich gerade darin, dass der eigentliche Zauber dieses Werkstoffes sein Zustand vom Flüssigen ins Feste, vom Fragilen ins Zerbrechliche wechseln kann. Diese komplexen Prozesse sind aber für uns nicht wirklich fassbar, aber klar spürbar.

Poetische Zeitlosigkeit

Ein schönes Beispiel dieser Renaissance des Glasmachens ist das Glasobjekt Muffin von Brokis, das bereits zu einem Designklassiker geworden ist. Diese Lampe wirkt wie eine moderne Skulptur und ist inzwischen in jedem Loft zu finden. Das Designerduo Lucie Koldova und Dan Yeffet schafften damit 2010 den internationalen Durchbruch und lösten eine Lawine aus. Die Tschechin Lucie Koldova studierte in Prag an der Academy of Arts, Architecture and Design, und Dan Yeffet, geboren in Jerusalem, an der renommierten Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam. So international wie der Werdegang dieser beiden Designer ist, ist auch der Zauber dieses Glasobjektes, dem inzwischen eine ganz neue Generation von Jungdesignern dem alten Material erlegen ist.

Zwei Jahre nach dem Entwurf Muffin wurde Lucie Koldova Artdirektorin bei dem tschechischen Glasleuchtenhersteller Brokis, einem Familienunternehmen, das auf eine jahrhundertealte Tradition des Glasbläserhandwerks zurückblicken kann. Mittlerweile ist sie einer der bekanntesten Designerin des Glaslichts weltweit und Meisterin der Lichtstimmung. Ihr Design vereint die Tradition und Moderne. Dadurch ist es ihr gelungen, die böhmische Glasbläserkunst in ein modernes Licht zu rücken. Sie entwickelt magische Glasleuchten voller Poesie und arbeitet gern mit organischen Formen, wobei sie spielerisch die leichte Transparenz von monochromatisch grauem, braunem, rauchigem und whiskyfarbenem Glas mit edlen Materialen wie Holz, Messing und Kupfer verbindet. Ihre Liebe zum Detail bringt sie durch die hochwertige Verarbeitung zum Ausdruck. Licht und Glas vereint sie sinnlich und modern, ohne einen Hauch von kitschiger Nostalgie. Mit der Rettung dieser Handwerkskunst in die neue Zeit wird die Poesie der Alchemie neu belebt und hat einen regelrechten weltweiten Trend ausgelöst. Die Sehnsucht, eine schöne Glaslampe mit dem Charakter eines Unikates zu haben, hat sich wie ein Virus verbreitet und ist zum Anziehungspunkt in unseren Interiors geworden, wie einst die Feuerstelle in früheren Zeiten.

Bezaubernder Mythos der Glashütten

Aber auch die Geschichten der mittelalterlichen Glashütten im Mittelgebirge klingen wie ein Mythos. In dieser Landschaft aus Tälern, Wäldern und Flüssen fanden die Glasmeister einst ihre wichtigen Rohstoffe: Sand, Quarzsteine, Wasser und sehr viel Holz. Mitten im Wald bauten sie kleine Dörfer, in deren Zentrum immer die Glashütte mit Schmelzofen, Lagerräumen für Brennholz, Pottasche, Sand und Fertigwaren stand. Um dieses Zentrum wohnten die Meister mit ihren Familien und Gehilfen. Häufig bevölkerten dieses kleine Dorf auch die Ofenbauer, Holzbauern, Sandgräber und Fuhrknechte. Die Pacht dieser abgelegenen und kargen Ländereien, die für die Landwirtschaft ungeeignet waren, stellte für Adelige und Abteien eine willkommene Einnahmequelle dar. Diese verpachteten ein Stück Wald an die Glasmeister, wobei die Verträge eine besondere Eigenheit aufwiesen: sie mussten eine unbegrenzte Menge an Bier den Glasmeistern zur Verfügung stellen, um den Flüssigkeits- und Mineralienverlust beim Glasmachen mit seinen hohen Temperaturen auszugleichen. Innerhalb von 20 oder 30 Jahren war alles abgeholzt und so zogen die Glasmacher weiter zum nächsten Wald.

Matteo Gonet «Der Alchemist»

Auch bei Matteo Gonet hat alles wie in einem Mythos des Glasmachers begonnen. In jungen Jahren liebäugelte er mit der Vorstellung, etwas zu lernen, für das es in der Schweiz keine Ausbildung gab. So zog es ihn an die Glasfachschule nach Deutschland. Darauf folgten ein paar Jahre der Wanderschaft durch halb Europa. Über einen Glasworkshop in Schottland gelangte er dann an die renommierte Gerrit Rietveld-Akademie in Amsterdam für ein Designstudium. Es folgte die Arbeit am Forschungscenter CIRVA in Marseille. Hier lernte er viele seiner Auftraggeber kennen, was sich als wichtiger Meilenstein für seine Handmanufaktur in Münchenstein bei Basel herauskristallisieren sollte. Seit 2008 steht nun Matteo Gonet täglich in seiner Glasmanufaktur «Glassworks+Design», eine einstige Aluminiumfabrik. Hier dreht, bläst, modelliert, poliert und schleift Gonet das flüssige Glas. In seiner Manufaktur, die wie ein Alchimistenlabor aussieht, erschafft er Objekte von ergreifender Schönheit, schlichter Eleganz und verspielter Poesie. Des Öfteren werden die zerbrechlichen Objekte in grossen Holzkisten nach Mailand, Miami, Hongkong, Paris verschickt, wo sie Museen, Galerien oder ein Fenster einer Chanel-Boutique bezaubern. Es ist kein Geheimnis mehr, dass Gonet in seiner Manufaktur derartige Kostbarkeiten herstellt und es verwundert nicht, dass namhafte Designer, Künstler und Architekten bei ihm ein- und ausgehen. Sie sind alle auf der Suche nach der Magie des handgemachten Glases. Dieses komplexe Handwerk braucht jahrelange Erfahrung, viel Feingefühl, fortwährende Experimentierfreude, aber auch tägliches Üben. Wenn er endlich glaubt, die Sache im Griff zu haben, eröffnen sich ihm wieder ganz neue Perspektiven. Gonet hat sich mit Leib und Seele entschieden, ein Glasmacher zu sein. Inzwischen pilgert ein Meer von jungen Studenten aus der ganzen Welt zu ihm, um dieses Können zu erlernen. Damit hilft er, diese alte Handwerkstradition in die neue Zeit zu führen und vor dem Vergessen zu sichern.

Die Geschichte des Werkstoffes Glas ist bereits neuntausend Jahre alt, trotzdem wurde keine Epoche damit benannt, wie bei Eisen und Bronze.

Dank seiner Innovationskraft hat es das Glas über das Handwerk und die Manufaktur in die industrielle Zeit geschafft und ist so modern wie nie zuvor. Ohne Glas würden viele Alltagsobjekte nicht existieren, so unsere geliebten Smartphones, iPads oder Computer. Es scheint, dass Glas eine neue Renaissance auf verschiedensten Ebenen erfahren und damit unsere volle Aufmerksamkeit verdient hat.

FOTOGRAFIE: Brokis, Andreas Zimmermann