Oliver Herwig • 21.02.2018

Das lässt sich (ein)richten

Wie Online-Shopping unser Wohnbefinden verändert. Eine Spekulation.

Kennen Sie dieses leichte Zittern, wenn die Hand über den Bildschirm fährt oder sich an der Maus festklammert? Es kommt nicht vom Alkohol. Die neue Droge heisst Allmacht, und jeder kann sie sich reinziehen. Rezeptfrei. Dafür muss Frau/Mann einfach ein Versandportal betreten und durch die Angebote surfen. Es gibt schliesslich alles. Und das meiste sofort. Früher waren solche Kräfte durchgeknallten Cäsaren vorbehalten, heute besitzen wir sie alle. Kein Wunder, dass das Magazin Spiegel Ende letzten Jahres titelte «Der Kunde als Gott.» Wie aber lebt es sich so als verwöhnter Konsument? Und wie richten wir uns ein, wenn wir darauf konditioniert wurden, Schuhe und Jacken gleich in drei Farben und drei Grössen zu bestellen? Was passt, behalten wir, der Rest geht zurück. Was bei Klamotten ganz gut funktioniert, verlangt bei Sesseln und Tischen schon etwas Logistik – und starke Schultern. Am besten aber beides. Zumindest in eine reguläre Packstation passen die meisten Wohnaccessoires nicht. Noch nicht, denn die viele Online-Versender arbeiten daran, die hohen Retourquoten zu senken und ihren Kunden trotzdem positive Gefühle zu vermitteln. Wie das geht? Nun, sie kommen ihren Kunden einen Schritt entgegnen und eröffnen Filialen mitten in den Städten: Amazon hat es vorgemacht, nun folgen Zalando und Co. Das müssen gar keine festen Läden mehr sein, oft reicht ein klug gemachtes Konzept für Pop-up-Shops, die sich prima dort anbieten, wo ein Traditionsgeschäft keinen Nachfolger gefunden hat.

Doch zurück zur Psychologie des Online-Shoppings. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie der Universität Göttingen, ist überzeugt, dass glückliche Menschen weniger unnötige Dinge kaufen würden1. Seine Erklärung klingt überraschend einfach: Unser Hirn arbeitet nach dem Belohnungsprinzip. Wie ein vorzeitlicher Jäger jagt es Glücksmomente. Und wo kriegen wir sie, wenn wir im Dauerstress gefangen sind? Im Kauferlebnis. Dass ein solches Belohnungssystem nicht gerade nachhaltig ist, scheint unter Wissenschaftlern weithin anerkannt zu sein: Marion Sonnenmoser etwa spricht im Deutschen Ärzteblatt 10/20072 von einer «Impulskontrollstörung.» Doch nicht jeder Käufer leidet gleich an einer «Kaufsucht» (Oniomanie). Derzeit sind es gerade einmal fünf Prozent3. Viel entscheidender jedoch sind die eher versteckten Dinge, die das Klicken mit uns macht: Unsere Ansprüche steigen und steigen. Wie das funktioniert, lässt sich sofort beim Gang durch die Realwelt erleben. Was, das Buch ist nicht da?!! Oder das Tuch gibt es nicht in Lavendel, nur in Bordeaux? Schon zücken wir das Handy und schauen mal nach, was wir für diesen Preis eigentlich bekommen würden. Im Netz, natürlich. Schlechte Zeiten für Verkäufer, die es nun mit regelrechten Kaufexperten zu tun haben. Mit untreuen noch dazu. Über drei Viertel derjenigen, die sich im Laden inspirieren lassen, kaufen die Produkte später online (Spiegel 50/2017, S. 15. Quelle: IFH).

Allwissende Algorithmen

Sind wir Kunden schon Gott, so gibt es auch einen Übergott, der ahnt, was alles zu uns passt. Wie, in welcher Reihenfolge – und mit welchen Mustern. Allwissende Algorithmen machen das Kaufen einfacher. Wir müssen uns also gar nicht mehr auf unseren guten Geschmack verlassen, und das hat ausnahmsweise gar nichts mehr mit Influencern und Style-Gurus zu tun. Sondern eher damit, dass wir einem gewissen Sinus-Milieu angehören. Das geht so: Wenn uns dieses Produkt gefällt und jenes, dann passt auch ein drittes Produkt perfekt zu uns. Und ein viertes, fünftes, sechstes. Wir können einfach nicht anders. Konfiguratoren und menügeführte Entscheidungshilfen tun ein Übriges, uns genau zu den Dingen zu führen, die wir wollen. Ein Schlüssel dafür ist Bequemlichkeit. Es hat schon Gründe, warum wir die Entscheidungsfindung auslagern, wenn wir uns sonst durch Tonnen von Style-Tipps, Infos, Kolumnen und Empfehlungen von Freunden klicken müssten. Bequemlichkeit ist Trumpf, ebenso wie breiteste Auswahl und schnelle Lieferung. Ist es nicht so, dass wir oft noch gar nicht wissen, was wir wollen, bevor wir es sehen? Der Onlinehandel ist somit zugleich ein mächtiges Marktforschungsinstrument. Ohne grossen Aufwand lassen sich dort Produkte einstellen (und liken), die es noch gar nicht gibt und die es vielleicht gar nicht geben wird, zumindest nicht in grosser Zahl. Limitierte Editionen und Massanfertigungen schaffen genau das, was wir alle so sehr wollen: Unser Stück, einmalig und genau auf uns abgestimmt. Das ist keine Utopie mehr, das ist Teil einer hochspezialisierten Produktion, die keine grossen Auflagen und Serien mehr braucht, um rentabel zu sein. Ein weiterer Vorteil: Die hohen Retourquoten sinken, die Zufriedenheit der Kunden steigt.

Sofa-Shoppen am Sofa

Wir wollen uns wohlfühlen, wenn wir schon Geld ausgeben. Das funktioniert im Café und bei Freunden, doch unschlagbar ist die Kombination von beidem: Mit Freunden am heimischen Sofa. Nicht selten mit dem Smartphone in der Hand. Oder zwei Smartphones. Eine Studie des ECC Köln und des Shopping-Senders HSE 24 belegt, dass das in der Mode schon klappt. «77 Prozent der Frauen zwischen 25 und 40 Jahren shoppen häufiger Fashion mit ihrem Smartphone als noch vor drei Jahren.»4 Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Aktuelle Geräte sind ja schon kleine Notebooks. Was also heisst das für die eigenen vier Wände? Dank Augmented Reality lässt sich all das, was früher im Katalog klebte, in die eigene Wohnung projizieren. Wir schwenken also bald das Smartphone und sehen das neue Sofa, den neuen Vorhang und die neuen Beistelltische– und zwar punktgenau im Raum, nicht irgendwie darüber gekleistert. Per App lässt sich noch ein persönlicher Wohnberater (quasi ein Coach) einklinken, der uns die virtuelle Stellprobe versüsst und uns klarmacht, warum das Modell in Kupfer vielleicht doch besser zu Omas Truhe passt. Die technischen Hilfsmittel – hochauflösende 360-Grad-Panoramabilder und ein einstellbarer 3D-Raumplaner – sind inzwischen Stand der Dinge5. Augmented Reality ist ein mächtiges Werkzeug, ein Katalysator, der Fehlkäufe verhindert und uns ein Bild dessen gibt, was uns erwartet, ohne dass wir mit Zollstock und Grundriss in ein Möbelgeschäft gehen müssen.

Digitale Tapeten

Gehen wir einen Schritt weiter. Braucht es überhaupt noch Möbel? Die Frage klingt recht bescheuert in einem Wohn-Blog, doch zumindest eines ist sicher: LED oder besser noch OLED-Tapeten werden in Zukunft zum einen als TV-Ersatz dienen und zum anderen als Erweiterung unserer Wohnwelten. Ein Fingerschnippen, und schon brandet der Indische Ozean an unser Sofa. Ein Sprachbefehl, und wir schlafen im Wald ein. Oder im Schloss. Oder bei der Ex. Wer nun fürchtet, in einer autarken Nerd-Welt zu landen, dem sei gesagt: Der steigende Versand von Dingen hat auch sein Gutes. Schon mal geärgert, dass der Paketbote immer zur falschen Zeit kommt oder dass man immer Dinge für andere entgegennehmen muss, während man selbst ins Postamt stapfen muss? Shopping eröffnet eine neue Kontaktbörse: Endlich lernen wir unsere Nachbarn kennen. Das sind doch gute Nachrichten für die gestressten Bewohner von Erdgeschoss-Wohnungen. Sie können endlich die Dating-Portale im eigenen Haus erschliessen. Doch auch das dürfte bald der Vergangenheit angehören: Die sogenannte Last Mile, die Logistik-Unternehmen und Zusteller zum Nervenzusammenbruch treibt, könnte bald entfallen. Nicht nur durch Drohnen (in Ausnahmefällen), sondern durch fest installierte Packstationen im Flur. Der Briefkasten verschwindet – stattdessen gibt es grosse Fächer mit PIN-Code und einem zusätzlichen (Tief)kühlfach. Das ganze tägliche Leben gibt es bald frei Haus. Hier erhebt Lars Hofacker Einspruch. Der Leiter beim Forschungsbereich E-Commerce des Kölner EHI Retail Institutes sagt: «Ein Amazon Locker, ein DHL-Paketkasten und eine Hermes-Variante in einem Hausflur können nicht die Lösung sein.» Er sieht hingegen eine differenzierte Entwicklung: «Vielleicht gibt es pro Viertel oder Block in einer Stadt eine grosse (für Anbieter) offene Packstation, Mini-Hubs und nur noch gegen hohe Preise wird bis zur Haustüre geliefert – oder eben nur, wenn ein intelligenter Paketkasten im Eingangsbereich steht. Einige Anbieter arbeiten bereits an Lösungen.»

Experten: Expandables?

Eines ist sicher: Keiner weiss genau, was kommen wird. Ob wir unsere gewohnten Fussgängerzonen wirklich mit Rollrasen auslegen können, dort dann Cricket spielen und Fussball oder statt dem Einzelhandel nur noch Bäcker, Friseure und Cafés überleben, während vor der Stadt Logistikhallen wachsen und wachsen – das bleibt noch offen. Architekten wie Professor Ritz Ritzer aus München klingen jedenfalls gelassen. Er meint auf die Frage nach dem Einfluss von Online-Shopping auf unser Zuhause (also die Wohnung selbst): «Das wird nicht sooooo gross sein, vielmehr wird man sich etwas zur Durchführung der Zustellung überlegen müssen: Die grosse Fluktuation der Zusteller führt zu unzuverlässigen Verhältnissen und Fehlern. Eine Regulierung wäre hier jedoch kein Nachteil – auch wenn‘s ein paar Cent mehr kostete … Vielleicht eine Wiederverstaatlichung?» Auch die Münchner Kollegen Katrin und Giancarlo Maio bleiben gelassen: «Weder braucht es vermutlich zusätzliche, bisher gänzlich unbekannte Funktionen im privaten Wohnraum noch etwa mehr oder gegebenenfalls intelligenteren Stauraum.» Sie denken eher an erhöhte Sicherheitsvorkehrungen (an Haus- oder Wohnungstüren) – «als Schutz gegen unliebsame Trittbrettfahrer…» und bringen die Institution des «Concierge» wieder ins Gespräch: «Auf den ersten Blick eine Super-Gelegenheit, diese grossartige Einrichtung wieder aufleben zu lassen: endlich wieder schön gestaltete Eingänge und Treppenantritte…! Kostet aber sicher zu viel im Zeitalter des Outsourcens.»

So bleibt das traute Heim die wohl bestuntersuchte Unbekannte unseres Lebens. So sehr wir Technik auch einsetzten, immer wieder fallen wir auf die ganz basale Wünsche und Vorstellungen zurück. Gemütlich soll es sein, das neue alte Heim. Und dazu kann ein guter Algorithmus sicher prima Vorschläge machen. Wie meinte doch

Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Gattopardo: «Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.»