«Terrazzo 2.0 – ­das Symbol unserer inter­disziplinären Gesellschafts­­struktur»

DESIGNKULTUR
Joan Billing & Samuel Eberli • 23.05.2018

Die junge Design-Generation wurde von der virtuellen Welt geprägt und hat dabei die reale Welt vernachlässigt. Die Verdrängung der realen Welt durch die digitale Welt wird immer sichtbarer. Unsere interdisziplinäre Zeit ruft uns auf, gemeinsam nach neuen Lösungen auf Makro- wie auch auf Mikro-Ebene und zwar disziplinübergreifend zu suchen. Auf diesem Weg haben wir den Geist und die Faszination neu interpretierter Materialien und deren Kombinationen entdeckt. Mittlerweile sind hybride Kombinationen alltäglich geworden und begleiten uns im Beruf wie privat. Ebenso hat sich das Interesse der Endkonsumenten für natürliche, rohe und haptische Materialien wie Holz, Beton, Leder und Stein inzwischen etabliert. Durch all das erleben wir eine Renaissance der Verwendung von Muster und Material in Design, Grafik, Architektur, Interieurs, Kunst und Fashion. Es geht erneut um das Wesen des Materials und die Frage, wie relevant das steinzeitliche Wissen in Kombination mit den digitalen Hightech-Möglichkeiten ist. Terrazzo fungiert dabei als Schlüsselsymbol und plötzlich tragen wir Sweatshirts in Terrazzo-Optik und finden es ganz normal, als Steinskulptur herumzulaufen.

«Zeitlos schön und modern»

Terrazzoböden hatten ihre erste Blütezeit in den prächtigen Räumlichkeiten der römischen Kaiserzeit. Schon die alten Römer mochten Terrazzo nicht nur wegen seiner Schönheit, sondern auch wegen seiner Strapazierfähigkeit und Pflegeleichtigkeit. Nach mehreren Jahrhunderten der Vergessenheit wurde Terrazzo von den Venezianern in der italienischen Renaissance wiederentdeckt, da sie anstelle von Marmor nach einer billigeren Variante suchten. Sie mischten deshalb Marmorreste mit Ton und schliffen und polierten die gehärtete Mixtur anschliessend von Hand. Mit Terrazzo erstrahlten ganze Kirchen und Paläste. Über die Schönheit des Kirchenbaus verbreitet sich Terrazzo in ganz Mitteleuropa. Die starke Auswanderung der Italiener nach Amerika brachte Terrazzo in den frühen 1900er Jahren in den Rest der Welt. So fand der gesprenkelte Bodenbelag Anwendung in Eingängen und Treppenhäusern von öffentlichen Gebäuden oder in Hallen von Bahnhöfen, aber auch für private Küchen und Badezimmer wurde er alltäglich. In den 1920er Jahren setzten die Architekten den Terrazzo für ihren atemberaubenden, opulenten und grafischen Art Deko-Stil ein. Erst in den 1960er Jahren verlor er seine Strahlkraft und man begann, ihn mit Teppich oder PVC zu bedecken und zu verstecken.

«Back To Memphis – Memphis lässt grüssen»

In den 1980er Jahren gab es erneut den wohlverdienten Wendepunkt. Terrazzo erlebte seine Auferstehung und wurde unter den Teppichen hervorgeholt. Der Auslöser war der japanische Designer Shiro Kuramata, Mitglied der italienischen Memphis Designgruppe um Ettore Sottsass. Er entwarf den Tisch «Nara»mit dessen Optik aus bunten Glassplittern auf weissem Grund. Er nannte dieses Muster «Star Piece», das zu seinem Markenzeichen wurde. Für den japanischen Modedesigner Issey Miyake, mit dem er studiert hatte, gestaltete er 1983 mit «Star Piece» seinen Departementstore in Ginza. Dieser war so reduziert und puristisch, dass er für grosses Echo sorgte und zu einem Meilenstein in der Laden-Szenografie wurde. Die Memphis Designgruppe war in das Muster regelrecht verliebt und entwickelte es mit ihrer neuen, bunten, wilden und fröhlichen Design-Bewegung weiter. Sie nutzte unter anderem buntes Plastiklaminat, um ihren Befreiungsschlag gegen die Dogmen der Moderne umzusetzen. Dabei stellten sie die ganze Welt auf den Kopf und hatten einen prägenden Einfluss auf die 1980er Jahre. Nachdem Terrazzo schon oft seine Blütezeit erlebt hat, ist es auch heute wieder en vogue.

«Terrazzo – Die neue Steinzeit»

Zurück im Hier und Heute feiert Terrazzo sein glorreiches Comeback! Die neue Terrazzo-Optik hat sich aber weg vom Boden erhoben. Designer, Handwerker, Künstler und Fashiondesigner erfinden mit seiner uralten Ästhetik immer neue überraschende Anwendungsmöglichkeiten. Er taucht nun an den skurrilsten Orten auf. Wir finden ihn als Print auf Fashion- und Wohnaccessoires wie Bomberjacken, Schmuck, Sonnenbrillen, i-Phone-Hüllen, Badeanzügen und sogar auf Yogamatten und Schneidebretten wieder. Auf Möbeln und Tapeten zum Abrollen überzeugt uns das allover Terrazzomuster. Teppiche, Bettwäsche, Verpackungen, Sneaker oder Kissen bleiben ebenfalls nicht verschont. Terrazzo ist auch in der Architektur wieder total aktuell. Die Architekten der angesagtesten Hotels und Restaurants setzen ihn ein. Ein schönes Beispiel ist das Hotel National des Arts et Metiers in Paris. Hier sind die Bäder in Salz und Pfeffer Terrazzo gehalten, der sich vom Boden über die Wände zur Dusche ausbreitet. Da lässt es sich gern länger verweilen. Terrazzo ergänzt sich aber auch perfekt mit dem derzeit angesagten Trend der Naturmaterialien. Die Motivation zeitgenössischer Designer, sich eingehend mit Terrazzo als Werkstoff zu beschäftigen, reicht von der archaischen Untersuchung der Natur bis hin zum Experimentieren mit neuen Hightech-Bearbeitungstechnologien, und dabei werden zuweilen auch die Grundgesetze im Umgang mit dem Material Terrazzo in Frage gestellt. An diesem Material kommen wir 2018 definitiv nicht mehr vorbei.

«Max Lamb ist schuld»

Den klaren Auftakt legte der britische Designer Max Lamb, als er 2014 auf der Möbelmesse Mailand eine weisse Möbelserie in einer Rauminstallation zeigte. Er entwickelte dafür mit der Firma Dzek seinen eigenen Terrazzo namens «Marmoreal». Die Möbel verschwanden optisch in den aus dem gleichen Material bestehenden Wänden. Es scheint, der Geist der Postmoderne und des Departmentstore von Shiro Kuramata waren gute Lehrstücke.

Das japanisch-französische Fashionlabel Maison Kitsuné wurde ein Fan dieser Rauminstallation. So entstand 2014 der erste «Marmoreal» Flagshipstore in Paris. Die Terrazzo-Optik schaffte es dann sogar auf die Kleiderständer und diente als Inspiration für die Drucke der Casual Kollektion, die aus T-Shirt, Sweatshirt und Taschen bestand. Fashion-Avantgardisten wie das schwedische Acne Studio oder das Carven haben den Terrazzo-Trend ebenso aufgegriffen. Und plötzlich findet man das Muster auf Gürteln, i-Pad-Hüllen, Sweatshirts und Schuhen wieder. Die Lawine ist ins Rollen gekommen und Terrazzo fing an, sich flächendeckend zu verbreiten. Der Stararchitekt David Chipperfield verpackte 2014 den Flagshipstore von Valentino in New York in einer sakral wirkenden Grau in Grau Terrazzo-Optik, was fast schon einem Besuch mit Erleuchtung gleichkommt.

Wiederum kreierte das Designstudio Femmes Régionales 2016 für die dänische Firma Normann Copenhagen eine unübersehbare Serie Büroaccessoires mit müden Pastelltönen in Terrazzo-Optik namens «Daily Fiction». 2017 legte der italienische Designer Alberto Bellamoli auf der Möbelmesse IMM Köln seine faszinierende Neuinterpretation des Terrazzo-Themas nach. Seine Collecta-Serie aus Beistelltischen, Kerzenständern und Schüsseln wies einen Terrazzo aus grünen Marmorflocken auf weisser Basis oder in bernsteinfarbener Optik auf einer schwarzen Basis auf. Er gehörte damit verdientermassen zu den nominierten Talenten. Aber auch das innovative Zürcher Designstudio Schönstaub entwarf einen umwerfend schönen, fotorealistischen Terrazzo-Teppich sowie zwei kubische Beistelltischchen, die der Trompe-L‘Oeuil-Optik eines Terrazzos gewidmet sind. Dies sind nur einige Beispiele des Terrazzo-Hypes. Davon ausgehend verbreitet sich die Terrazzo-Optik über nahezu alle Branchen, wie uns die Verpackungsoptik der Tafelschokolade Gourmand Croquant des französischen Chocolatiers Cyril Lignac zeigt. Es lohnt sich wirklich die herrlich feine Geschmackskomposition mit Sésame & Thé Vert auf der Zunge zergehen zu lassen. Dieses Jahr haben wir die Chance in den angesagten Departmentstores dieser Welt die unterschiedlichsten Objekte aus Terrazzo zu entdecken.

So ist das fragmentierte Muster einzelner Stücke verschiedenfarbiger Steine, die doch ein Ganzes bilden, nicht nur das zentrale Merkmal von Terrazzo, sondern es wird damit zum Symbol unserer heutigen virtuellen Gesellschaftsstruktur. Alles hängt irgendwie zusammen. Es wundert nicht, dass junge Designer und Architekten ihn neu für sich entdecken und frisch und wild interpretieren. Sie sind motiviert, der alten Tradition neues Leben einzuhauchen und damit das wertvolle Handwerk ins 21. Jahrhundert zu führen und für die nächste Generation zu sichern.

Fotografie: Schoenstaub