Der Herr der Dinge

Mikael Krogerus • 28.02.2018

Welches Möbel ist am kompliziertesten aufzubauen? Was ist die schlimmste Designsünde? Wann ist ein Stuhl ein Stuhl? Die 88 endgültigen Designfragen, beantwortet von Marcus Engman, Head of Design Ikea.

Marcus Engman sitzt auf dem Beifahrersitz des Volvo XC60 und blättert irritiert in der Bedienungsanleitung des Wagens. Der wirkmächtigste Designentscheider der Welt, über dessen Schreibtische die Entwürfe gehen, die früher oder später als Möbel in unserem Wohnzimmer landen, kann in dem Mietwagen die Handbremse nicht finden. Seine persönliche Assistentin hockt im Fahrersitz und verliert langsam die Nerven. «Hier links vom Lenkrad ist ein Knopf mit einem P drauf», ruft sie. «Damit öffnest du die Motorhaube», antwortet Engman. Wir befinden uns auf dem Parkdeck einer Fähre von Südschweden nach Polen, wo Ikeas grösste Fertigungsanlagen liegen. «Ich liebe Gebrauchsanweisungen », erzählt Engman, während er weiterblättert. «Bei uns auf dem Klo liegt ein ganzer Stapel, ich lese sie wie Bücher, aber diese hier ist komplett unverständlich.» – «Ich drücke jetzt diesen P-Knopf», sagt seine Assistentin. Ein rotes P leuchtet im Display auf – die Handbremse ist aktiviert. «Okay, das ist Wahnsinn», kommentiert Engman, während wir aussteigen. «Ich verstehe ja, dass die Autoindustrie die mechanische Handbremse entfernt, aber sie können doch den Knopf nicht dort platzieren, wo früher der Hebel für die Motorhaube war – das ist das Gegenteil von intuitivem Design. Der Knopf muss genau dort sein, wo früher die Handbremse war.» Der 51-jährige Designchef Ikeas ist in Älmhult aufgewachsen, in jenem 9000-Einwohner-Flecken, in dem 1943 Ikea gegründet wurde und wo bis heute der Hauptsitz liegt. Engmans Vater war der legendäre Ikea-Designer Lars Engman, Schöpfer des ikonografischen Sofas «Klippan». Der Sohn hatte lange nur einen Berufswunsch: «nicht Designer». Mit 16 begann er bei Ikea als Einkaufswagenschieber, später machte er sich selbstständig als Designer und Architekt. Und als im Jahr 2012 der Anruf kam, ob er jemanden kenne, der Designchef bei Ikea werden könne, fiel ihm nur einer ein: er selbst. Die Fähre legt ab, Engman überlegt kurz, ob er die Bedienungsanleitung des Volvos einstecken soll, dann legt er sie zurück ins Handschuhfach und wendet sich an den Reporter: «Du kannst mich alles fragen.» Na dann.


Machen wir den berühmten «Ikea oder Death-Metal-Band?»-Test. Ich sage einen Namen, und Sie sagen, ob es sich um eines Ihrer Produkte handelt oder um eine skandinavische Metal-Band: «Dåtid»?

Wäre ein klasse Bandname, ist aber unsere Dunstabzugshaube.


«Blåhø»?

(Überlegt ewig.) Schwierig. Könnte ein Bettgestell sein. Ich tippe aber: Metal-Band.


«Grundtal»?

Das ist Ikea.

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Drei von drei, gratuliere. Nach welcher Logik werden die Namen gemacht?

Wir haben eine eigene Abteilung, die sich mit dieser Frage beschäftigt. Sie arbeitet nach einem ausgetüftelten System: Badezimmerartikel werden benannt nach schwedischen Seen, Betten nach norwegischen Städten, Teppiche nach dänischen Städten, Gartenmöbel nach schwedischen Inseln, Büchergestelle tragen Jungsnamen («Billy»), Kinderprodukte Tiernamen.

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Es gibt rund 9500 Ikea-Produkte, welches ist das älteste?

Vermutlich «Poäng», der Sessel aus laminiertem Holz.

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Was ist das meistverkaufte?

«Frakta», die blaue Tragetasche.

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Womit erzielen Sie die höchste Marge?

Wir denken nicht so. Unser Ziel ist Demokratisierung, jedes Produkt soll einer möglichst grossen Käufergruppe zugänglich sein.

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Welchen Ikea-Klassiker wird es immer geben?

Hoffentlich keinen! Ich will, dass wir uns immer erneuern. Selbst die Klassiker in unserem Sortiment sind nie unverändert. Wir haben jedes Möbel leicht adaptiert.

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Wenn Sie einen Designklassiker der Weltmöbelgeschichte ins Ikea-Sortiment aufnehmen dürften – welcher wäre das?

Das Regalsystem 606 von Dieter Rams. Vereint alles, was mir im Design wichtig ist.

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Und wie würde das Möbel auf Ikea heissen?

Hm … «Förändring» («Veränderung»).

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Sie lancieren jedes Jahr 2000 Produkte und entfernen 2000 aus dem Sortiment. Was ist Ihre Strategie, um Darlings zu killen?

Wir folgen dem Prinzip: «Love, fix, exit». Jedes Jahr betrachten wir alle Produkte und fragen uns, ob sie noch unseren Kriterien entsprechen. Wenn sie es tun, kriegen sie ein «love», wenn sie eine leichte Adaption brauchen, ist es ein «fix», wenn ein Produkt die Kriterien trotz Adaption nicht erfüllen kann, fliegt es raus: «exit».

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Apropos: Wann verschwindet das CD-Regal «Gnedby» aus dem Sortiment?

Stimmt, sollte eigentlich längst entfernt worden sein – und ersetzt werden durch ein Vinylregal!

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Smart Home, Internet of Things, AI: Hier ist Ikea relativ zurückhaltend. Warum? Überschätzt?

Wir machen schon was, aber wir wollen keine Gadgets verkaufen, sondern neue Technologien nur dann verwenden, wenn sie ein Problem lösen.

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Kopiert Ikea öfter, oder werden Sie öfter kopiert?

Wir kopieren nicht – zumindest nicht bewusst, da bin ich sehr genau. Was passiert: Man hat die gleiche Inspiration oder kommt zeitgleich mit der gleichen Idee. Ob wir kopiert werden? Wir sehen natürlich oft Dinge, die von uns, sagen wir mal, inspiriert wurden. Und wenn das der Fall ist, schicken wir einen freundlichen Brief.

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Wie heisst das am häufigsten kopierte Ikea-Produkt?

Es ist die 30 Jahre alte Serie «Dokument», die Ablagen und Papierkörbe aus Metallnetzen. Gibts heute überall.

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Ich möchte Ihnen nicht in Ihr Kerngeschäft reinreden, aber haben Sie nie überlegt, eine Ikea-Katzen-Line zu produzieren? Also Trinkschalen, Kratzbäume?

Sind wir selbst draufgekommen! Diesen Winter wird unsere Haustierserie lanciert, sie wird den Namen «Lurvig» («Strubbelig») tragen.

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Ikea ist älter, als man denkt, wirkt aber immer jung. Was sind die Ingredienzen Ihres Zaubertranks, um immer up to date zu bleiben?

Ich glaube: Neugierde. Solange du neugierig bleibst, wirkst du nie alt. Ingvar Kamprad, der Ikea-Gründer, war ein verdammt neugieriger Mann. Auch ein mutiger Mann. Genau, du musst neugierig sein und mutig.

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Jeder kennt den Ikea-Effekt, dieses wohlige Gefühl, wenn du einen Schrank zusammengeschraubt hast: Du kommst dir schlau und handwerklich begabt vor und vergisst für einen wundervollen Moment, dass das Millionen andere vor dir auch schon gemacht haben. War das von Anfang an eingeplant?

Nein, das Flatpack-Paket und das Selbermontieren waren als Transportlösung für sperrige Sachen gedacht, der Pseudo-Handwerkereffekt war ein unfreiwilliges, aber wichtiges Nebenprodukt: Ich mache ja ausführliche Hausbesuche, um herauszufinden, wie Kunden unsere Produkte verwenden, und kürzlich war ich bei einer jungen Frau in New York, die ihre erste Wohnung einrichtete, unter anderem mit einem unserer Couchtische, bei dem man einfach die Füsse an die Tischplatte schrauben muss. Sie strahlte mich an und sagte: «I’ve made this.» Das hat natürlich was Lächerliches, und zugleich ist uns mit dem Selbermontieren unabsichtlich etwas Grosses gelungen: eine Beziehung zwischen Mensch und Objekt herzustellen.

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Die Montageanleitungen müssen ja narrensicher sein. Woher kriegen Sie die Narren, an denen Sie das testen?

Wir rekrutieren die hier in Älmhult.

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Gibt es eine Korrelation zwischen schnellem, gutem Montieren und dem IQ des Zusammenbastlers?

Nein, ich glaube nicht. (Lacht.) Ist eher eine Sache der Erfahrung, die Konstruktionen sind ja alle sehr ähnlich.

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Welches Ikea-Möbel ist im Aufbau das komplizierteste?

Das sind die, die wir versuchen abzuwickeln. Zum Beispiel «Hemnes», ein Tagesbettgestell mit drei Schubladen, hat sich wahnsinnig gut verkauft, war aber viel zu kompliziert zusammenzusetzen. Gutes Beispiel übrigens für ein Produkt, das den «fix»-Stempel bekam: Wir mögen dich, aber du entsprichst nicht dem Designkriterium «Funktion». Also haben wir es überarbeitet.

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Wie lange darf der Aufbau eines Möbels dauern?

Kommt aufs Produkt an. Bei «Hemnes» hat es mitunter mehrere Stunden gedauert, das ist natürlich verrückt. Faustregel: Wenn die Testpersonen die Nerven verlieren, ist die Maximalaufbauzeit überschritten.

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Ich bin am «Pax»-Schrank gescheitert. Sie?

Habe ich mehrfach aufgebaut. Wobei das Assembly-Design, also die Aufbau-Anordnung, zugegebenermassen nicht top ist.

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Hand aufs Herz: Kann man den «Pax» auseinanderschrauben, zügeln und wieder zusammensetzen, oder ist er, streng genommen, ein Einwegmöbel?

Nichts darf Einweg sein! Grundsätzlich werden in den meisten Gegenden der Welt Möbel nur einmal aufgebaut. Dieses ständige Zügeln ist ein westlich-urbanes Phänomen. Trotzdem haben Sie recht, die Demontage von «Pax» ist nicht selbsterklärend. Wir arbeiten dran.

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Was ist der Plan? Eine Abbau-Anleitung?

Eine typische Ikea-Lösung wäre: die Montageanleitung rückwärts lesen zu lassen, anstatt zwei verschiedene beizulegen.

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«Auf Wunsch montieren wir die gekauften Möbel bei dir zu Hause» – täuscht der Eindruck, oder nehmen immer mehr Kunden den Montageservice in Anspruch?

Das glaube ich nicht, und das wäre auch ein echtes Armutszeugnis, wenn unser Assembly-Design so kompliziert wäre, dass man Hilfe braucht. Aber es wird immer Menschen geben, die zu wenig Zeit und zu viel Geld haben und deshalb montieren lassen.

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Warum kommt der Inbus-Schraubenschlüssel immer noch mit? Jeder moderne Mensch hat schon vierzig davon zu Hause. Die könnte man doch an der Kasse auflegen. Wäre auch umweltschonender.

Stimmt eigentlich, gute Idee. Danke. Der Inbus war sehr wichtig für uns, er erlaubte die Flatpack-Verpackungen und das schnelle Montieren zu Hause. Bald wird er aber vom Klickdübel, «Wedge Dowel», abgelöst – eine unserer klügsten Entwicklungen. Dabei steckt man einfach wie vor hundert Jahren die Möbel ineinander. Langfristig wird es keine Schrauben mehr geben.

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Wir kennen den Aufbau des Supermarkts – Einstieg mit Obst, Kühlregal als tiefster Höhepunkt, Quengelware im Kassenbereich: Nach welcher Logik kommt der Gang durch das Ikea-Kaufhaus zustande?

Zuerst kommen die «First Five» – fünf Lebenssituationen, die inspirieren sollen. Danach folgen die Wohnbereiche, also Wohnzimmer, Essräume, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Küche, Kinder, danach Restaurant und Selbstbedienung. Durch ein Ikea-Kaufhaus geht man auf Geraden. Links und rechts kannst du viel entdecken, die Sichtachsen zielen auf die Ecken, die sogenannten Hotspots, dort platzieren wir unsere «Heros», also Produkte, an die wir stark glauben.

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Samstag ist Selbstmord: Haben Sie ein Konzept im Hinterkopf, wie man die schlauchenden Einkaufstouren bei Ikea deeskalieren könnte?

Stimmt schon, ein Ikea-Besuch kann an die Substanz gehen. Vielleicht sollten wir Psychologen an neuralgischen Punkten positionieren? Ein Spielzimmer für den Partner einrichten?

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Wo stehen Sie in der grossen Retail-Debatte: Stirbt das Kaufhaus?

Die Kaufhäuser vor den Toren der Stadt wurden ja gebaut, um sie mit dem Auto zu erreichen; aber heute leben die Kunden mehrheitlich in der Stadt und besitzen kein Auto. In Zukunft wird es mehr Onlineshops geben, mehr Pick-up-Points, wo man vorbestellte Produkte abholt, mehr Pop-up-Stores in der Innenstadt. Wir sind im Bereich der Produktentwicklung weit gekommen, jetzt müssen wir das Retail neu denken.

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Wie war das doch gleich: Ikea gehört einer Stiftung, die in den Niederlanden ansässig ist, die wiederum einer Stiftung in Luxemburg gehört?

Keine Ahnung, nicht mein Thema.

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Was ist die durchschnittliche Lebensdauer eines Ikea-Möbels?

Unmöglich zu sagen, aber die Idee ist schon, dass Möbel lange leben sollen.

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Wie teuer wäre ein «Billy»-Regal bei einem Schreiner in Stockholm, das dann ein Leben lang hält?

Viele hundert Prozent teurer. Natürlich wäre es auch länger haltbar, aber eben auch unbezahlbar für die Mehrheit der Menschen.

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Die Ikea-Tochter Swedwood rodet Hunderttausende Hektar Wald. Im Sekundentakt fallen uralte Bäume – was ist Ihr Standardargument gegen diese Vorwürfe?

Holz ist unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ein gutes Material, weil es nachwächst – wenn man Bäume fällt, statt Wälder zu roden. Die meisten unserer Hölzer sind FSC-zertifiziert. Inzwischen haben wir praktisch volle Kontrolle über alle Schritte in der Produktionskette.

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Wir leben in einer Zeit der Unverbindlichkeiten – alles ist so billig, dass wir einfach etwas Neues kaufen, wenn etwas kaputtgeht oder uns nicht mehr passt. Ist Ikea Ursache oder Folge dieser konsumistischen Haltung?

Weder–noch, aber es frustriert mich, wenn wir den Wert unserer Produkte nicht richtig vermitteln. In jedem einzelnen Produkt stecken im Schnitt drei Jahre Arbeit, und ein Grossteil dieser Arbeit liegt darin, die Produkte so günstig wie möglich zu machen, ohne dass die Qualität darunter leidet. Günstig ist nicht gleich wertlos.

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Die Menschen werden immer älter, aber mit Ikea-Möbeln sieht die Wohnung immer so aus, als sei man gerade bei den Eltern ausgezogen. Problem oder Chance?

Chance, man will ja nicht alt aussehen. Aber das Thema Überalterung ist natürlich eine Designherausforderung: Alte Menschen brauchen breitere Griffe, stabileres Geschirr, andere Proportionen bei Sesseln, damit sie leichter aufstehen können. Eine unserer Designerinnen, die selbst einen Schlaganfall erlitten hatte, nahm sich der Sache an und kreierte die Reihe «Omtänksam», also «Fürsorglich».

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Ikeas Leitfrage lautet: Was macht, dass wir uns zu Hause fühlen? Wie ist Ihre Antwort auf diese Frage?

Spontan sage ich: eher Menschen als Gegenstände. Denke ich etwas länger drüber nach, sage ich: Düfte. Meine Grossmutter ist 96 Jahre alt, wenn ich sie besuche, dann duftet es in ihrem Haus noch immer so wie in meiner Kindheit. Wir erinnern uns an Düfte besser als an visuelle Eindrücke.

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Wie würden Sie den Ikea-Stil in drei Worten beschreiben?

No-Nonsens, blond, jung.

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Ist Ihr Ziel beim Designen, dass der Kunde sagt: «Oh, das ist von Ikea!» oder eher: «Ich hätte nie gedacht, dass das von Ikea ist!»?

Letzteres. Wenn uns jeder sofort als Ikea identifiziert, haben wir uns nicht bewegt. Wir wollen den Kunden überraschen.

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Wie lang dauert der Weg von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt?

Im Schnitt zwei bis drei Jahre.

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Wo werden die meisten Ideen gekillt? Im Designteam, bei der Kalkulation, in der Produktion, in der Verpackung?

In der Preiskalkulation. Unser Ausgangspunkt ist immer der Preis, typische Briefings lauten: «Wir wollen die beste Wasserkaraffe der Welt machen, aber sie darf nicht mehr als drei Euro kosten.» Oder: «Wir brauchen eine LED-Lampe, die nicht mehr als einen Euro kostet.»

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Man sagt dem Ikea-Gründer Ingvar Kamprad einen gewissen Geiz nach: Wenn er aus der Minibar eine Cola light nahm, ging er anschliessend raus, kaufte eine billigere Dose und stellte sie in die Minibar. Mythos oder wahre Geschichte?

Gute Story, aber ich denke, es ist ein Mythos.

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Spürt man den Kamprad-Spirit noch bei Ikea?

Tief in unserer DNA verankert ist der Gedanke, dass wir niedrigpreisig produzieren müssen, wenn wir niedrigpreisig verkaufen wollen. Preiskalkulation wird bei uns im Unternehmen sehr ernst genommen. Das hat aber weniger mit Kamprads Verhältnis zu Geld als mit seinem sehr klaren Verständnis des Geschäftsfelds zu tun.

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Korrekte Information, dass der Ikea-Katalog eine höhere Auflage hat als die Bibel?

Ja, so sagt man. Über 200 Millionen jährlich, glaube ich.

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Welchen dieser legendären Designer würden Sie eher anstellen: Charles und Ray Eames oder Alvar Aalto?

Eher Charles und Ray Eames. Wegen ihrer Verspieltheit und ihrer Fähigkeit, ihr Design zu kommunizieren.

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Wie kriege ich einen Job bei Ikea?

Als Designer? Nur über ein Praktikum. 100 Prozent aller Festangestellten sind ehemalige Praktikanten, hier lernst du unser Denken. Inhaltlich erwarten wir, dass du dich nicht nur fürs Design, sondern vor allem auch für die Produktion interessierst.

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Muss man eigentlich Schwede sein, um Ikea-Designer zu werden? Oder nur wie ein Schwede denken?

Weder noch. Mehrheitlich sind unsere Designer Skandinavier, aber wir nehmen im Halbjahreswechsel immer Praktikanten aus dem Norden und Praktikanten aus aller Welt, um einen guten Mix sicherzustellen.

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Was ist Ihre schwedischste Seite?

Dass ich mir die Schuhe ausziehe, bevor ich eine Wohnung betrete. Macht man ja nirgendwo anders als in Skandinavien.

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Wann ist ein Stuhl ein Stuhl?

Wenn er das Sitzen erleichtert.

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Was ist wichtiger: Form oder Farbe?

Form.

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Welcher Gebrauchsgegenstand hat vollkommene Formen?

Der schwedische Käsehobel. Unübertroffenes Design.

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Umgekehrt: Welcher Alltagsgegenstand bedarf eines Gestalters?

Sämtliche Fernbedienungen.

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Auf welche Designsünde sollte eine mehrjährige Haftstrafe stehen?

Glasierte Dachziegel.

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Welche Uhr tragen Sie?

Eine Nokia Withings. Analoge Oberfläche, kann aber meine Schritte zählen und den Blutdruck messen. Mir gefällt es, wenn etwas einfach aussieht, aber viel kann.

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Welchen Wagen fahren Sie?

Einen Ford Ranger Pick-up. Aber morgen kaufe ich mir einen BMW i3. Ich mag Autos, aber in meinen Käufen kann ich kein Muster erkennen.

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Welche TV-Serie ist gut eingerichtet?

Ich mag wahnsinnig gern die Optik der Showtime-Serie «Snowflakes», die in den 1980ern in Los Angeles spielt.

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In Erik Johan Stagnelius’ Gedicht «Ein Freund! In der Stunde der Vernichtung» gibt es den berühmten Vers: «Die Nacht ist die Mutter des Tages / Chaos der Nachbar von Gott». Warum sind Designer so ordentlich?

Einerseits ist das halt die klassische Ästhetikschule, Goldener Schnitt und anderes, wobei wir gerade eine Abkehr von den klaren Linien sehen. Andererseits beschäftigen sich gute Designer mit dem Lösen von Problemen. Und die Erfahrung lehrt, dass Ordnung dir mehr Zeit und Freiheit gibt, andere Dinge zu tun.

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Auf einer Skala von 1 bis 10, wie ordentlich sind Sie?

Unter Null. Mein Ordnungssystem: An den Papierstapeln auf meinem Schreibtisch erkenne ich, wie viele Wochen ich im Rückstand bin.

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Worauf achten Sie als Erstes, wenn Sie eine Wohnung betreten?

Erstens auf den Duft, zweitens auf die Beleuchtung – da sieht man, ob der Bewohner sich um seine Wohnung kümmert –, drittens auf den Flur. Die meisten scheitern am Flur, und ich finde es spannend zu sehen, wenn es Leuten gelingt, ihn klug zu nutzen.

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Verrät Ihnen eine Wohnung mit Eames Chair so viel wie uns ein CD-Regal mit Mariah Carey oder Jason Donovan?

Haha, ja, jedes Möbel sendet eine gewisse Botschaft. Aber ich bewerte nicht so sehr einzelne Möbel, sondern mehr die Stimmung in einem Raum.

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Drei schnelle Tipps, wie ich mein Zuhause gemütlicher machen kann!

Erstens Lichtplanung: Trau dich, deine Wohnung ungleichmässig zu beleuchten. Also Punktlicht anstelle von Ganzraumlicht. Zweitens: Gib jedem Zimmer einen anderen Charakter. Das geht am einfachsten, indem du sie in unterschiedlichen Farben streichst. Die meisten Menschen sind wahnsinnig feige, wenn es um Farbgebung geht. Drittens: Immer und in jedem Zimmer soll Musik laufen. Musik erschafft ein Zuhause.

Sechs Uhr morgens, nach einer kurzen Nacht läuft die Fähre im polnischen Świnoujście ein. Der stets gut gelaunte Engman setzt sich wieder in den Volvo und kommentiert das Design der Fähre («Eine Rundumerneuerung wäre vermutlich sinnlos, weil die Passagiere genau diesen 1980er-Trash erwarten»), sein Kommunikationschef beginnt derweil per Smartphone die Fahrerin zur drei Autostunden entfernten Fabrik zu lotsen (die chronisch sparsame Ikea-Policy erlaubte nur einen Mietwagen ohne Navi). Hier in Polen wird umgesetzt, was Marcus Engman mit seinem Team in Schweden ersonnen hat und demokratisches Design. nennt. Alle Ikea-Produktionen sollen fünf Kriterien erfüllen: Form (ist es schön, spielerisch, ästhetisch?), Funktion (löst es ein Alltagsproblem?), Qualität (ist es haltbar und widerstandsfähig genug, um über längere Zeit benutzt zu werden? – Engman will mit dem Wegwerf-Image bisheriger Ikea-Möbel brechen), Nachhaltigkeit (woher kommt das Material, wie wurde es gewonnen, wer hat wie unter welchen Bedingungen daran gearbeitet?) und schliesslich Preis (ist das Produkt so günstig, dass es sich die meisten Leute leisten können?). Was wie diensteifrige PR klingt, abgeschrieben aus den «Mission Statements» eines beliebigen Grossunternehmens, nimmt Marcus Engman ernst. Die Negativschlagzeilen der Nullerjahre, in denen die Firma als Umweltsünder und ihr Gründer als Steuerbetrüger durch die Presse gejagt wurden, müssen in ihm Grundlegendes ausgelöst haben. Wichtiger als cooles Design ist ihm tatsächlich die Erfüllung der fünf Kriterien. In den Fabriken – riesige Hallen, in denen man kilometerweit an Produktionsbändern vorbeiläuft – starrt er wie ein Kind vor einem Anaconda-Terrarium minutenlang auf Fliessbänder, nervt die Angestellten mit Detailfragen, erkundigt sich nach Abfallmengen und erfreut sich an Kleinigkeiten. Sein Hauptaugenmerk gilt dem «Wedge Dowel», dem Klickdübel, jenem kleinen Wunderding aus Holz, das es in Zukunft erlaubt, Möbel zusammenzubauen, ohne Schrauben zu verwenden.

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Ihr Markenzeichen ist der Begriff «Democratic Design». Welches Ihrer Produkte erfüllt die Kriterien zu 100 Prozent?

Die Wasserkaraffe «365+». Das Briefing war: Wie bringen wir mehr Menschen dazu, Leitungswasser zu trinken? übersetzt auf Ikea heisst das: Wie sieht die perfekte Karaffe aus? Wir fingen mit der Grösse an. In den meisten Ländern – abgesehen von Asien – will man kaltes Wasser trinken, also muss die Karaffe in jede Kühlschranktür passen. Als Nächstes ging es um den Flaschenhals, der ist ja schmal, damit dieses glucksende Geräusch entsteht, was aber den Nachteil hat, dass man die Flasche nicht gut mit einer Abwaschbürste reinigen kann und dass sie auch nicht in die Spülmaschine passt, also haben wir uns für eine grössere Flaschenhalsöffnung entschieden. Dann das Material: Wir haben echtes Glas gewählt, damit es recycelbar ist und den Charakter des Wassers betont, denn kein Plastik der Welt ist so klar wie Glas. Dann der Verschluss: aus Kork. Es gibt zurzeit einen Überschuss an Kork, und der Stoff ist zu 100 Prozent recycelbar. Zudem signalisiert Kork: «Ich bin ein Verschluss» – ein wunderbares Beispiel für intuitives Design. Und nicht zuletzt haben wir so stark an das Produkt geglaubt, dass wir gleich eine sehr hohe Stückzahl produzierten, wodurch der Preis weiter gedrückt werden konnte – drei Euro.

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Ikea gibt es (fast) auf der ganzen Welt – in welchem Land funktioniert das Konzept nicht?

In Japan war es schwierig. Wir wissen, ehrlich gesagt, nicht genau, warum.

64
Kann es sein, dass Sie den Japanern über den Hag gefressen haben? Die – und nicht Schweden – sind ja die Spezialisten für das Ausnützen von kleinstem Raum.

Stimmt, Japan hat ein interessantes Raumkonzept. Die Dinge sollen von aussen klein wirken, aber innen geräumig sein. Das Zweisitzer-Sofa aus unserer «Hay»-Linie zum Beispiel ist stark davon inspiriert: Wenn du es anschaust, wirkt es wie ein vergrösserter Sessel, wenn du drinsitzt, denkst du sofort, du könntest dich hinlegen. Ich bin ein bisschen stolz auf dieses Produkt.

65
Ihr Kommentar zu Muji, das Ikea Japans?

Sehr gut, vielleicht bisschen mehr Form als Funktion.

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Kulturelle Unterschiede: was sind die lustigsten Beispiel, was sich wo am besten verkauft?

In China und Südkorea verkaufen sich unsere Kinderprodukte sehr gut – was ich nie gedacht hätte –, aber wenn du etwas drüber nachdenkst, passt es: Ausgangspunkt unseres Wohndesigns ist, dass Kinder sich überall in der Wohnung aufhalten. Diese Idee, dass Kinder nicht nur spielen dürfen, sondern auch sollen ist bei uns lange Konsens, in China und Südkorea ist das grad erst im Kommen.

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Richtig oder falsch: Originale kann man nicht toppen?

Falsch.

68
Form follows function?

(Überlegt ewig.) Richtig, würde ich sagen.

69
Kopie ist die ehrlichste Form der Schmeichelei?

Richtig.

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Designer sind Perfektionisten?

Falsch. Ich würde sagen: Gute Designer machen Fehler.
Trial and error, nicht Perfektion ist der Antrieb.

71
Früher wurden bessere Materialien verwendet?

Falsch.

72
Most things are not yet done – steht an der Wand in Ikeas Entwicklungsbüro. Welches Designproblem werden Sie in den nächsten zehn Jahren gelöst haben?

Die Herausforderungen liegen eher im Produktionsbereich. Ich glaube wir werden in Zukunft zwei Dinge sehen, erstens werden die Produktionslinien verkürzt, zweitens wird jegliches Abfallprodukt noch einmal irgendwie wiederverwendet werden.

73
Was ist die zurzeit kreativste Industrie?

Ganz klar die Musikindustrie. Sie stand mit der Digitalisierung vor einem Riesenproblem, und sie hat es gelöst. Ich halte das Lösen von Problemen für einen guten Indikator für Kreativität. Zweitens findet man viel Compilation und Mash-up in der Musikindustrie, etwas, das man auch im Möbelbereich mehr und mehr sehen wird. Du solltest ein Ikea-Produkt in jedes Haus stellen können, mit jedem Stil mischen – es sollte immer passen.

74
Welches Vorurteil, das die Leute über Ikea haben, würden Sie hier gern ein für alle Mal entkräften?

Dass Massenproduktion umweltunfreundlich sei. Das Gegenteil ist richtig. Je grössere Mengen du produzierst, desto genauer musst du arbeiten, desto weniger verschwendest du.

75
Welche Möbelmessen sind Pflicht?

Vermutlich der Salone del Mobile in Mailand, aber am meisten Spass hatte ich an der Möbelmesse Eindhoven.

76
Wer ist der zweitinnovativste Möbelhersteller der Welt?

Sie werden lachen, aber ich finde die Wohnmobilindustrie zurzeit wahnsinnig innovativ. Das grosse Thema in der Einrichtungsbranche ist ja: Kluge Lösungen auf kleinen Flächen, und da sind Wohnmobilhersteller aus ihrem Tiefschlaf erwacht und überholen gerade alle. Auf einer Wohnmobilmesse findest du hundertmal mehr Inspiration als auf dem Salone del Mobile …

77
Was kann Ikea von H & M lernen?

… je länger ich darüber nachdenke: Wir sollten ein Ikea-Wohnmobil bauen! Ein elektrisches! Wie war noch mal die Frage?

77
Was kann Ikea von H & M lernen?

Das Tempo in der Produktentwicklung und die Fähigkeit, sich schnell in einem neuen Markt zu etablieren.

78
Mal überlegt, Kleider im Ikea-Design zu entwerfen?

Ja, haben wir teilweise auch schon gemacht, aber die Gefahr für ein grosses Unternehmen ist immer, dass es glaubt, alles zu können. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir nur Dinge verkaufen dürfen, die wir beherrschen.

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Ikea reagiert oft auf gesellschaftliche Trends – vegetarische Fleischbällchen etwa. Würden Sie, wenn der Markt das erfordert, zum Beispiel eine Garderobe für Burkas designen?

Sicher. Ein Beispiel sind unsere Aufbewahrungssysteme, die mehr als 50 Prozent des Umsatzes ausmachen und die wir laufend an die Bedürfnisse neuer Märkte anpassen. Jetzt beginnen wir in Indien, und dort trägt ein Grossteil der Bevölkerung Saris – also designen wir einen Schrank, in dem Saris besser Platz finden. Wenn Burkas nicht in einen «Pax»-Schrank passen, ja, dann werden wir den adaptieren.

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Arbeiten eigentlich Designer nach einer Formel?

Gute Frage. Vermutlich ja, wie alle Künstler. Ein in meinen Augen sehr interessanter Künstler ist der Schwede Max Martin, einer der Songschreiber mit den meisten US-Tophits in den letzten 20 Jahren. Er hat eindeutig eine Formel, nach der er arbeitet, aber – und das bewundere ich – er zieht die nicht durch, sondern lässt sich beeinflussen, wechselt den Stil, arbeitet mit anderen zusammen.

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Haben Sie eine Erklärung dafür, warum auffällig viele grosse Designer – David Mellor, Dieter Rams, Alvar Aalto und auch Sie – aus kleinen, unbedeutenden, eigentlich langweiligen Orten stammen?

Das ist mir auch schon in meinem Team aufgefallen: Je langweiliger die Herkunft, desto aufregender der Designer. Meine Theorie: Wenn es in deinem Dorf nichts gibt, musst du dir etwas einfallen lassen.

82
Das berühmteste Design der Gegenwart sind vermutlich die Apple-Produkte aus der Hand des Briten Jonathan Ive. Bewundern Sie ihn?

Nein, das tue ich nicht. Er hingegen bewundert den Designer Dieter Rams, was man unschwer erkennt. Ich bewundere die frühe Innovationskraft von Apple und die Fähigkeit, ein Bedürfnis zu wecken, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es habe. Inzwischen stagniert das Unternehmen.

83
Warum machen (männliche) Designer so viel in Weiss, kleiden sich aber auffällig oft in Schwarz?

Vermutlich wegen des Kontrasts, damit sie besser gesehen werden!

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Wie leben Sie privat: eher exzentrisch oder normal?

Unser Haus haben wir vor 20 Jahren zusammen mit einem befreundeten Architekten entworfen, und wir fanden das damals ziemlich exzentrisch, und es hat auch viel gekostet. Heute wirkt es total normal. Ist eine Grundregel im Design: Das, was du heute für gewagt hältst, ist morgen normal.

85
Wie viele Ikea-Teile stehen bei Ihnen zu Hause?

Ziemlich viele, aber nicht nur. Dein Haus sollte dein Leben widerspiegeln, nicht deinen Arbeitgeber.

86
Spontan: Ihre Erinnerung an das Sofa «Klippan», den Geniestreich Ihres Vaters, des grossen Ikea-Formgebers Lars Engman?

Er wollte ein Sofa, das sich junge Eltern leisten können, das nicht zu viel Platz braucht, aber auf dem Kinder herumtoben können. Zwei Jahre lang kaufte es kein Mensch, danach wurde es ein Bestseller.

87
Wir Journalisten wären gern Schriftsteller. Was wären Ikea-Designer eigentlich gern geworden?

Multisportler. Ich liebe Sport und beginne ständig mit neuen Disziplinen, lerne sie halbwegs und fange dann die nächste an. Meine letzten drei Sportarten: Velo, Motocross, Karate.

88
Es ist das Los von Komponisten, dass sie nach einiger Zeit die eigene Musik nicht mehr hören können. Geht Ihnen das ähnlich?

Dass ich unsere Möbel nicht mehr sehen kann? Nein, mich hingegen nervt im Design – auch bei uns – alles Erwartbare, alles Naheliegende, alles Selbstverständliche, alles, was jedem einfallen könnte.

Fotographie: moos-tang
Interview: Mikael Krogerus