Ein Manifest in 10 Objekten.

#1 Sessel

CARTE BLANCHE
ANTONIO SCARPONI • 28.02.2018

Ein Manifest

Ich bin der Meinung, dass Design eine Form der Erzählung ist. Seine Kraft kann Materie animieren und sie dazu bringen, mit den Menschen Verbindungen einzugehen. Design ist eine Erzählung, die die Fähigkeit in sich birgt, Industrie, Arbeiter und Handwerker zu aktivieren, Geschäftsführer zu überzeugen, Investoren anzuziehen, Marktwirtschaft zu erzeugen, Gewohnheiten zu verändern und Traditionen zu erneuern. Manchmal kann Design sogar soziale Umbrüche anstossen und ihnen eine Form verleihen. Carte Blanche verfolgt die Idee, Design wie eine Erzählung zu sehen, die uns verändern kann. Die Idee eines Designs, das keine Produkte, sondern Wissen erzeugt. Jede Erzählung stellt eine intime Beziehung mit dem Zuhörer her. Hier wird es meine Stimme, meine Sprache als Planer, Konstrukteur sein, diese Beziehung herzustellen. Zeichnungen, Diagramme und Pläne erzählen von der Poesie des Wohnens, von Gegenständen, die Sie mit mir zusammen konstruieren können, wenn Sie möchten.

Ein in Marmor eingraviertes Gedicht besitzt keinen höheren Wert als ein Gedicht, das auf die Rückseite eines Buchdeckels, auf die Seiten eines zerdrückten Hefts oder auf einen zusammengeknüllten Kassenbon geschrieben wurde. Ich glaube nicht, dass ausschliesslich der materielle Wert den universalen Wert der Poesie bestimmt. Im Gegenteil, ich glaube, dass gerade ein karges Material die Brisanz und Fragilität der Poesie in all seiner Unermesslichkeit erzählt. Ihr Dasein im «Hier und Jetzt», in dem die Poesie stattfindet, der Kontext, in dem sie konzipiert und gelebt wird. Dasselbe gilt für jene besondere Verskunst der Gegenstände, die wir mit einem Begriff bezeichnen, der antike Ursprünge hat und den wir ab und zu als Substantiv, als Adjektiv oder auch in Verbform verwenden: «das Design», ein relativ vager Begriff, der zugleich aber assertorisch ist, jene Kunstform, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit der sogenannten industriellen Revolution geboren wurde. Und da ich mit diesem Credo einhergehe, habe ich nach dem schmucklosesten Material gesucht, das einfach zu bearbeiten ist, und mit dem man Wohngegenstände herstellen kann. Ein Holz, das schnell nachwächst, das leicht und modular ist, dessen Basis und Höhe miteinander in Beziehung stehen. Ein bescheidenes Material, mit dem Hausdächer, Trennwände, Kellertüren und die Illusionen und Hoffnungen von Theaterbühnen gebaut werden.

Diese narrative Annäherung an das Projekt, an die Materie, an die Beziehung zwischen den Dingen ist für mich eine Art Selbstbefreiung, die zu den Archetypen der Entwurfsarbeit gehört, und von der ich glaube, dass sie auf die grossartige essayistische Tradition zurückgehen kann, die in unserer Branche mit dem ältesten Dokument seiner Art, das wir je erhalten haben, nämlich mit dem Werk De Architectura eingeweiht wurde, das in den Jahren zwischen 154 und 30 v.Chr. von Marco Vitruvio Pollione geschaffen wurde und in dem unter anderem die Architektur als Baukunst und als Form des Prozesses der daraus folgenden Zivilisierung der Menschheit beschrieben wird. In der modernen Zeit dagegen glaube ich, dass diese auf die erste Avantgarde und auf den Versuch des Künstlers Thayaht zurückführen ist, die Gesellschaft mit einem autarken Kleid aus Hanfstoff zu bekleiden, der damals von allen Bauern in Italien erzeugt und gewebt wurde. Die TuTa (1918), die für das Motto tout-de-même – alle gleich – wie ein Unisex-Kleidungsstück für alle Tätigkeiten und alle Jahreszeiten steht, dazu erdacht, dass jeder es nach den von Thayaht nach genauer Anleitung gezeichneten Schnittmustern selbst nähen kann, dass es über die damaligen Tageszeitungen verbreitet wird, erdacht für eine Produktion, die der resilienten Handfertigkeit einer endlich modernen Welt übertragen wurde. Weitere exzellente Episoden folgten in diesem Sinne im zwanzigsten Jahrhundert.

Carte Blanche wird eine Kollektion von zehn Wohngegenständen enthalten, die von jedermann und überall nach meinen wenigen Anleitungen realisiert werden können.  Es handelt sich um eine ungeschminkte Kollektion, die die Vorstellung in sich trägt, dass es kein Design für Reiche oder Arme, kein demokratisches oder autoritäres, kritisches oder unkritisches, engagiertes oder nicht engagiertes, politisches oder unpolitisches und kein nachhaltiges oder nicht nachhaltiges Design gibt. Ich bin der Meinung, dass dies die unabdingbaren Eigenschaften sind, die die Art des heutigen Designs als poetische Form definieren, die den Objekten eine Seele einhaucht. Zehn Wohngegenstände als Garnitur zur Szene unseres täglichen Dramas oder unserer täglichen Komödie, deren Autor ein jeder von uns sein kann. Hier nun einige Anleitungen.

I

A, B, C: Bretter aus FSC-zertifiziertem gehobeltem Tannenholz mit 2×4,5×60 cm. Die Profile sind mit Längen von 1 oder 2,5 m in allen Baumärkten erhältlich (Coopbau, Jumbo, Migros DoIt, Bauhaus etc.), mit dem vorliegenden Schema können die Stücke vor Ort geschnitten werden. Suchen Sie möglichst gerade Bretter mit wenigen Knoten aus. Insgesamt werden 11 Stück benötigt, und zwar 4 des Typs A und C und 3 des Typs B. Die Profiltypen unterscheiden sich nur durch die nachfolgende Verarbeitung.

D1, D2: Tannenholzplatte der Klasse B mit einer Breite von 40 cm, Dicke 1,8 cm, unterschiedliche Längen. In diesem Fall wird empfohlen, eine Platte mit 120 cm Länge zu nehmen und es im Baumarkt direkt zuschneiden zu lassen. Unter Berücksichtigung von 3 mm Schnittabzug ergeben sich zwei Stücke mit jeweils 59,85 cm.

E: Schrauben für Gipskartonplatten, 3,5×35 mm, Farbe Schwarz.
F: Elektrischer Bohrer/Akkuschrauber mit 3 mm Holzbohrer.
G: Lochbohrer mit Säge mit ø 80 mm.
H: Schraubendreher, empfohlen wird ein Akkuschrauber.
I: Bleistift. L. Metermass mit ausziehbarem Massband.
M: Schraube für Gipskartonplatten, 3,5×35 mm, Farbe Schwarz.

II

Mit dem Bleistift die angegebenen Masse an beiden Enden eines der Profile des Typs A und B anzeichnen.

III

Mit dem 3 mm Holzbohrer an den Enden der Bretter mit den Massen laut Punkt II Löcher bohren. Die beiden Profile, nämlich A und B, als Vorlage für die nachfolgenden Bohrungen nutzen. Legen Sie die Profile möglichst auf ein Zwischenstück auf, um nicht die Unterlage zu durchbohren.

IV

Das Profil B am Ende eines Profils des Typs C anschrauben. Sicherstellen, dass beide Teile absolut rechtwinklig zueinanderstehen. Das zweite Profil B wird in einem Abstand von 35 cm von dem unteren Ende des Profils C angeschraubt. Diesen Vorgang wiederholen, um die beiden «Portale» zu erhalten, die die Basis der Stuhlstruktur bilden.

V

1. Nun das vorher montierte Portal um 90 Grad umdrehen und in perfekter Übereinstimmung zum Profil C unter das Profil B ein Profil des Typs A integrieren. Es wird empfohlen, ein Profil zu verwenden, mit dem eine gemeinsame Ebene geschaffen werden kann, um das Anschrauben des Profils zu erleichtern. 2. Diesen Vorgang nun mit dem anderen Portal wiederholen. 3. Ein weiteres Profil A unter die Querlatte B anschrauben. 4. Den Vorgang wiederholen, aber Vorsicht: jetzt wird das Profil A oberhalb der Querlatte B angebracht, um die Neigung der Sitzfläche zu gewährleisten.

VI

Nun werden auf die beiden Platten D1 und D2 mit dem Bleistift die vorgegebenen Stellen markiert, an denen die Bohrungen vorzunehmen sind. Mit dem 3 mm Holzbohrer das Loch in D1 und mit dem 80 mm Lochbohrer das Loch in die Platte D2 bohren.

VII

Die Sitzfläche auf dem eben zusammengebauten Rahmen mittig ausrichten. Der hintere Teil bleibt bündig mit dem Rahmen, während der vordere Teil um ein paar Zentimeter nach vorne raussteht.

VIII

Die Platte D2 auf der Sitzfläche ausrichten und sie von unten über die im Punkt VI vorbereiteten Bohrungen anschrauben.

IX

Die Rückenlehne wird von hinten mit zwei Schrauben befestigt. Dazu müssen jedoch zuerst die Löcher an dem Profil gebohrt werden, das den Rahmen bildet. Nun bereiten Sie sich einen Kaffee zu und setzen Sie sich. Das haben Sie sich wirklich verdient.

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Illustration: Antonio Scarponi