Geflecht – Designnetzwerk 2.0

The cane lounger natural ©Worn

Joan Billing & Samuel Eberli • 22.08.2019

Man kennt es aus der Mode: Alles taucht irgendwann als Neuinterpretation wieder auf. Das gilt mittlerweile auch für die Interior-Branche. Edle Marmorflächen sind gerade hip, glänzende Kupferobjekte ebenso. In diesen Kontext reiht sich der aktuelle Trend Geflecht also bestens ein. Dank der aktuellen Rückbesinnung auf Altbewährtes und traditionelles Handwerk wird das Flechten in Fashion, Design und Architektur zurzeit neu entdeckt. Es verwundert also nicht, dass die Deutsche UNESCO Kommission das geschichtsträchtige Flechthandwerk bereits 2016 als immaterielles Kulturerbe aufgenommen hat.

Wenn Tradition zum Trend wird – und alte Technik neu belebt

Die Wiederentdeckung des Flechtens passt zur heutigen Rückbesinnung auf Entschleunigung, Nachhaltigkeit und «Less is more». Und sie gesellt sich zu den unterschiedlichen Naturmaterialen, die zurzeit im Interior-Bereich eingesetzt werden. Im Zuge dieses Megatrends erlebt das Geflecht zusammen mit Holz, Terrazzo, rohem Beton oder teurem, handgemachten Keramikgeschirr gerade einen echten Höhenflug. Bis vor fünf Jahren galten Stühle mit einer Sitzfläche aus geflochtenem Stroh noch als verstaubt. Doch ein Blick auf die neusten Exponate der grossen Möbelmessen in Mailand, Paris oder Köln zeigt, dass diese Auffassung der Vergangenheit angehört. Die neuen Flechtentwürfe sind minimalistisch und verkörpern damit ein äusserst gelungenes Spiel zwischen Moderne und Tradition. So bekommt das berühmteste aller Flechtmuster, das «Wiener Geflecht», ein ganz neues, ja cooles Gesicht, das von dänischen Labels und italienischen Möbelmachern gleichermassen aufgegriffen wird. Selbst namhafte Designer haben ihre Designstücke damit veredelt. Das Geflecht erobert mit seinem fulminanten Siegeszug die Shops, Labels, Interiors und Influencer. Es genügt, die Bezeichnung «Wiener Geflecht» auf Instagram oder Pinterest einzugeben und schon tauchen viele Neuinterpretationen auf. Sie verschönern Wände, Leuchten, Schränke, Sideboards, Beistelltische und Bücherregale genauso wie Fashion-Accessoires. Das Geflecht lässt sich mit jedem Einrichtungsstil kombinieren – vom skandinavischen Minimalismus bis hin zum Boho-Flair. Doch wer denkt, dass es neu ist, muss sich eines Besseren belehren lassen. Es besteht schon seit Jahrhunderten, und es scheint, als ob jede Generation irgendwann ihre eigene Vorliebe dafür entwickelt.

Kilt Stuhl Teakholz Marcello Ziliani ©ethimo

Flechten – eines der ältesten Handwerke der Menschheit

Das Flechthandwerk reicht weit bis in die Zeit der Jäger und Sammler zurück, als geflochtene Behältnisse noch dem Transport und der Aufbewahrung dienten. In der Jungsteinzeit wurden die Menschen sesshaft und kultivierten es zur Höchstform. Funde in den ägyptischen Pyramiden zeigen die Verwendung von Binsenhockern. In jedem Winkel der Erde haben Menschen mit den vorhandenen Naturmaterialien eigene Techniken zum Flechten entwickelt. Bis ins 17. Jahrhundert verwendete man zum Flechten ausschliesslich regionale, biegsame Materialien wie Weiden, Stroh, Bast, Reisig und Binsen. Das Material Rattan hatte seinen grossen Durchbruch erst Mitte 18. Jahrhundert. Die funktionale Urform einer einfachen Polsterung aus Strohgeflecht, entworfen als anonymes Alltagsdesign, fand man in Bauernstuben, Kirchen und Königshäusern. Im Barock wie im Klassizismus, vom Biedermeier bis hin zum Jugendstil, zu allen Zeiten wurde fleissig geflochten, aber der grosse Durchbruch kam erst 1859 mit dem Wiener Kaffeehausstuhl von Thonet.

Der Wiener Kaffeehausstuhl – ein Klassiker

Das «Wiener Geflecht» feiert sein grosses Comeback. Der Stuhl mit der markant geflochtenen Sitzfläche, auch Achteck- oder Wabengeflecht genannt, gehört zu den Klassikern der Möbelgeschichte. Den Namen «Wiener Geflecht» verdankt es der deutschen Traditionsfirma Thonet. Von Fürst Metternich nach Wien berufen, entwarf Michael Thonet 1859 das Stuhlmodell «Nr. 14», den sogenannten Wiener Kaffeehausstuhl, und sorgte damit für grosses Aufsehen. Revolutionär daran waren zum einen das Rattangeflecht und zum anderen das gebogene Holz – das Bugholz, das unter grosser Hitze mit Dampf gebogen wurde. Auf diese Weise wurde weniger Holz verwendet und der Stuhl dadurch sehr leicht. Er konnte massenhaft hergestellt werden und wurde für jedermann erschwinglich. Der Stuhl «Nr. 14» gilt als Stuhl aller Stühle. Michael Thonet avancierte damit zum Pionier der Möbelproduktion und erhielt dafür 1867 bei der Weltausstellung in Paris eine Goldmedaille. Bis 1930 wurden 50 Millionen Exemplare verkauft. Noch heute führt das Unternehmen Thonet die alten Traditionen weiter und geht gleichzeitig mit zeitgenössischen Designern auch ganz neue Wege. Kein Wunder, dass das Unternehmen Thonet 2019 sein 200jähriges Bestehen feiern kann.

Slow Collection 2019 ©tinekhome.dk1
Toteme.Biot.Sandals ©EllenBeekmans

Möbel Flechtikonen – vom Bauhaus und der Moderne

Ebenso setzten die Designer der Moderne Anfang des letzten Jahrhunderts auf altes Handwerk bei ihren Möbeln. Marcel Breuers Stahlrohr-Freischwinger mit Geflecht gilt als Bestseller des Bauhaus-Designs. Die Architektin Charlotte Perriand entwarf den Méribel Hocker und den Mid-Century Méribel Stuhl aus Geflecht. Doch die Begeisterung der Moderne für die alte Handwerkskunst lässt sich leicht erklären. Sie folgte dem Prinzip «form follows function», auf dem alle natürlichen Flechttechniken gründen. Die Designer der skandinavischen Moderne Alvar Aalto oder Hans Wegner fertigten unvergessliche Flechtikonen des Dänischen Designs. Für die handgeflochtene Sitzfläche des Stuhls CH24 von 1949 brauchte Wegner 120 Meter Papierkordel. Dabei entwickelten sie neue Materialien wie breite Leinengurte oder Papierschnüre «Danish Paper Card», während man im Süden die Sitzflächen von Stühlen aus Seegras flocht. Als Nächstes wird ganz bestimmte das Papierschnurgeflecht sein grosses Comeback haben.

Architektur – Flechtkunstwerke

Potenzial haben die geflochtenen Oberflächen auch in der Architektur, denn Flechten stellt das schlichteste aller Bauprinzipien dar. Schon 2008 waren in der Architektur erste Vorboten für diesen neuen Trend zu entdecken. Erinnern wir uns an das fulminante Stadium «Bird’s Nest» von Herzog & de Meuron für die Olympiade in Peking. Dem folgte 2010 der Flagshipstore von Hermès in Paris an der Rue de Sèvres. In einem denkmalgeschützten Art Déco-Bad aus den 1920er-Jahren stehen drei beeindruckende und begehbare korbartige Flechtwerke aus Holzlatten und mit abgeflachter, ovalen Grundform, die sich nach oben verjüngen. Sie erinnern an die ersten Hütten oder Wigwams und beeindrucken mit ihren 8 Metern Höhe und ihrem Durchmesser von 8-12 Metern. Auch das geflochtene Dach des Architekten Shigeru Ban für das Centre Pompidou in Metz zeigt die neu erwachte Liebe zum Geflecht. Doch schon die Natur hat es uns vorgemacht. Mit Halmen bauen die Webervögel ihre Brutnester zu wahren Kunstwerken in allen Variationen, von Bodennestern über Hängenester, rund oder mit seitlichem Einflugloch. Nichts ist zu aufwendig für die sichere Aufzucht des Nachwuchses.

Vielleicht ist die neue Begeisterung für Geflechtes auch ein Symbol für das neue Bedürfnis nach dem Netzwerk, das für jeden einzelnen in unserer globalen und fluiden Welt immer zentraler wird!