«Jeder Mensch ist gleich viel wert»

Giulia Bernardi • 06.06.2019

Was bedeutet es, mit einer Behinderung zu leben und zu wohnen? Und welche Herausforderungen und Vorurteile bringt das mit sich? Daniel Stutz hat seit seiner Kindheit eine kognitive Beeinträchtigung. Seit bald einem Jahr wohnt der gelernte Schreiner auf dem Hunziker Areal in Zürich, ein inklusives Siedlungsprojekt, das Begegnungen zwischen Menschen aller Generationen und Lebensrealitäten fördert. Nun erzählt der 52-Jährige, wie sich sein Alltag und das Wohnen auf dem Areal gestaltet.

«Entschuldige die Verspätung», ertönt eine Stimme im Treppenhaus, als ich gerade vor der Wohnungstür ankomme. «Normalerweise bin ich pünktlich!», sagt Daniel Stutz, währenddessen er an mir vorbeieilt, um die Tür aufzuschliessen. Eine angenehme Abwechslung, da sonst meistens ich diejenige bin, die etwas knapp dran ist. Es folgt ein freundschaftlicher Händedruck und schon stehen wir in einer modernen Zweizimmerwohnung mit Blick auf das ehemalige Werksgelände der Betonfabrik Hunziker.

Von der damaligen Industrie ist heute nicht mehr viel übrig. Lediglich die imposanten Fassaden aus Dämmbeton, die auf dem 41000 Quadratmeter großen Areal verteilt sind, das sich in den letzten Jahren zu einem lebendigen Quartier entwickelt hat, erinnern noch daran. Fertiggestellt wurde das Siedlungsprojekt 2015 im Auftrag der Baugenossenschaft mehr als wohnen und bietet seitdem Wohn- und Gewerbefläche für rund 1300 Personen aller Generationen und Couleur. Gemeinschaftsräume und partizipative Formate, darunter etwa Quartiergruppen, ermöglichen den Bewohnerinnen und Bewohnern das Zusammenleben aktiv mitzugestalten.

Die Stiftung Züriwerk, die sich für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen engagiert, ist mit 40 Wohnungen und 30 Atelierplätzen Bestandteil des Konzepts. «Wir versuchen für jede Person die passende Wohnung zu finden», sagt Stefan Sieber, Bereichsleiter Aussenwohnen. Dies gestalte sich allerdings nicht immer einfach, da neben den Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner auch auf die Vorgaben der Subventionsbehörden geachtet werden müsse: Neben Spenden wird Züriwerk durch die Beiträge der kantonalen Sozialversicherung finanziert. Das Angebot der Stiftung ist darauf ausgerichtet, Menschen mit vorwiegend kognitiven Beeinträchtigungen ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu ermöglichen. Entsprechend werde auch der Begleitbedarf auf jede Person abgestimmt und immer wieder neu evaluiert, so Bereichsleiter Stefan Sieber.

Ähnliche Bestrebungen gibt es auch auf kantonaler Ebene. Im Rahmen eines Pilotprojekts richtet der Kanton Bern die Leistungen nicht mehr an den Institutionen aus, wie es bisher der Fall war, sondern an den betroffenen Personen. Das Ganze nennt sich Subjektfinanzierung und soll Menschen mit einer Beeinträchtigung mehr Freiheit bei der Wahl ihrer Betreuung ermöglichen.

Die eigenen vier Wände

Daniel Stutz lebt seit letztem Sommer auf dem Hunziker Areal. Seine Wohnung hat er einfach und liebevoll eingerichtet: Neben dem Fenster steht ein kleines Sofa, das von den frühlingshaften Sonnenstrahlen beleuchtet wird, auf den Armlehnen türmen sich Bücher und lose Blätter, ein selbstgemaltes Bild lehnt an der Wand. «Die meisten Möbel habe ich selbst zusammengebaut. Das habe ich während meiner Ausbildung als Schreiner gelernt.»

Bevor Daniel Stutz auf das Areal zog, verbrachte er neun Jahre in einer betreuten Wohngemeinschaft in Seebach. «Die Wohnung war weniger komfortabel als jene, die ich jetzt habe und das Leben in der WG hat mir nicht so zugesagt. Mein Mitbewohner und ich hatten einfach zu unterschiedliche Vorstellungen», erinnert er sich. «Ausserdem bin ich mittlerweile Anfang 50 und möchte mehr Platz für mich haben. Darum geniesse ich es jetzt umso mehr meine eigenen vier Wände zu haben.»

Doch die Suche nach dem eigenen Heim hat sich für Daniel Stutz nicht einfach gestaltet. Etwa fünf Jahre lang habe er sich nach einer eigenen Wohnung umgeschaut, leider ohne Erfolg. «Ich weiss nicht woran es lag, dass ich nichts gefunden habe. Ich habe mich auch bei der Stadt um vergünstigte Wohnungen beworben, das hat aber auch nichts gebracht.» Durch die Arbeit bei Züriwerk sei er auf dessen Wohnungsangebot aufmerksam geworden, wodurch ihm schliesslich sein jetziges Zuhause auf dem Hunziker Areal vermittelt wurde.

Learning by Doing

Seit vier Jahren arbeitet Daniel Stutz nun bei Züriwerk. Vier Tage die Woche erledige er hauptsächlich Hauswarts- oder Recyclingarbeiten. Das seien einfache, aber doch körperlich anstrengende Arbeiten, findet der 52-Jährige. Nach seiner Ausbildung zum Schreiner, habe er auch mehrmals versucht Fuss auf dem freien Arbeitsmarkt zu fassen, eine Stelle fand er allerdings nicht. «Ich denke, dass Vorurteile abgebaut werden müssen und es mehr Unternehmen braucht, die auch Menschen mit einer Behinderung eine Chance geben. Schliesslich ist jede Behinderung anders.»

An seinem freien Tag besuche er oft seine Mutter. «Sie ist alleinstehend und froh über Unterstützung beim Einkaufen oder im Haushalt. Ich möchte mich aber auch wieder mehr kreativ betätigen, etwas mit den Händen machen. Töpfern habe ich auch schon ausprobiert.» Einmal in der Woche trifft sich Daniel Stutz mit seiner Betreuungsperson. «Wir tauschen uns aus, ich kann Fragen stellen, falls ich welche habe, oder Bescheid sagen, sollte ich mir mehr Betreuung wünschen. Momentan komme ich aber ganz gut allein zurecht. Vieles ist ja sowieso Learning by Doing.» Seine kognitive Beeinträchtigung sei von einer Reihe von epileptischen Anfällen während seiner Kindheit ausgelöst worden. «Die starken Medikamente haben sich auf meine Konzentration ausgewirkt. Damals musste ich eine Sonderschule besuchen, eine integrative Schule gab es noch nicht.»

«Die» Beeinträchtigung gibt es nicht

«Ich fühle mich sehr wohl im Quartier. Es ist so lebendig, das gefällt mir gut. Manchmal höre ich meine Nachbarin beim Klavierspiel – so habe ich mein eigenes, privates Konzert», sagt Daniel Stutz und grinst. Anderen Bewohnerinnen und Bewohnern begegne er in der Waschküche oder vor dem Briefkasten. «Man könnte aber auch mehr Menschen kennenlernen, in den Quartiergruppen zum Beispiel. Gerade hat sich eine gebildet, die ein Foxtrail auf dem Areal gestalten möchte. Ich glaube, da fände ich es spannend mitzumachen.»

Der Standort auf dem Hunziker Areal bringe viele Vorteile mit sich, sagt Stefan Sieber. «Hier sind beeinträchtigte Menschen Teil vom Ganzen und fallen gar nicht auf. Es gibt viele Angebote, an denen sie teilnehmen können, was sehr geschätzt wird.»

In den letzten Jahren habe sich auch die Wahrnehmung dessen verändert, was eine Beeinträchtigung ist oder wie sich diese äussert. «Man geht mehr davon aus, dass Behinderung eine Zuschreibung und nicht ein Zustand ist. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nahezu barrierefrei, wodurch Menschen mit Beeinträchtigungen gar nicht mehr auffallen.» Ausserdem können durch Fortschritte in Medizin und Rehabilitation Schwächen immer besser kompensiert werden, was dazu führt, dass sich gesellschaftliche Bilder von Beeinträchtigungen verändern. Auch auf politischer Ebene finden Bemühungen statt, den Umgang mit beeinträchtigten Menschen zu normalisieren. Ein Beispiel dafür ist das Behindertengleichstellungsgesetz, das seit 2004 in Kraft ist, und die UNO-Behindertenrechtskonvention, die 2014 ratifiziert wurde.

Dennoch haben es Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung oft nicht einfach, da diese nicht augenfällig ist. «Ich habe oft den Eindruck, dass eine Behinderung, die sichtbar ist, mehr Unterstützung erfährt», sagt Stefan Sieber. «Dass Tram-Stationen Rollstuhlgängig sein müssen, leuchtet rasch ein. Bei einem Menschen mit kognitiver Behinderung kann jedoch nicht beobachtet werden, wo er oder sie auf Barrieren stösst.» So gebe es gegenüber kognitiv beeinträchtigen Menschen häufig Vorurteile. «Wenn jemand beispielsweise etwas langsam an der Kasse ist, wird das Verhalten oft als ‹komisch› oder ‹mühsam› abgestempelt und nicht mit einer Beeinträchtigung in Verbindung gebracht.»

«Jeder Mensch ist gleich viel wert»

«Wenn man mich fragt, macht es mir nichts aus über meine Behinderung zu reden. Allerdings werde ich selten darauf angesprochen», sagt Daniel Stutz. «Ich denke, dass man dem Thema lieber aus dem Weg geht. Man sollte mehr sichtbar machen, dass beeinträchtigte Menschen nicht lästig sind, sondern sinnvolle Arbeit leisten können. Auch wenn diese Menschen anders sind, sind sie immer noch Menschen. Und jeder ist gleich viel wert», sagt Daniel Stutz und wirkt kurz etwas nachdenklich, fährt aber zugleich mit einer ansteckenden Lebensfreude in seiner Stimme fort: «Aber das ist ein grosses Thema, über das wir ewig sprechen könnten. Übrigens: Wolltest du eigentlich etwas trinken? Vor lauter Reden habe ich das ganz vergessen zu fragen!», sagt er und lacht.

Photography: Lucas Ziegler